Kojotenhöhle

Was dich hier erwartet, ist nicht der Versuch, irgendetwas zu umschreiben. Ich nenne die Dinge durchaus beim Namen, auch wenn ich versuche, das niveauvoll zu tun. Und ich versuche außerdem, Geschichten zu erzählen, in denen der Sex ein Teil des Ganzen ist und nicht der einzige Teil. Man findet hier wohl auch Grenzwertiges für manche Geschmäcker. Ob man es als BDSM-artig oder als abartig empfindet, liegt dabei ganz im Auge des Betrachters.

Wenn es dir gefällt, lass es mich wissen. Wenn es dir nicht gefällt, gerne auch. Hinterlass mir einen Kommentar oder schreib es mir per Mail an Mike.Stone bei gmx.net .

Donnerstag, 27. Februar 2014

Blutrache - Teil 06

Blutrache
Eine Fantasy-Legende von Leidenschaft und Lust, Bestien und Blut.
© 2012-2014 Coyote/Kojote/Mike Stone

*****

Teil 01
Teil 02
Teil 03
Teil 04
Teil 05
Teil 06

*****


V.

So wie der überwältigende Gipfel der Lust ihr sonst schon manches Mal das Bewusstsein geraubt hatte, so schuf er diesmal Klarheit.
Shadiya erwachte wie aus einem Traum und wusste, dass sie lebte.
Und wenn sie lebte, waren die Hände auf ihrem Körper nicht diejenigen der Göttin. Auch wenn sie sich beinahe so wunderbar anfühlten.

Mehr als einen flüchtigen Blick auf starke, aber nichtsdestotrotz weibliche Finger konnte sie werfen, bevor diese ihren Körper verließen. Und mit ihnen verschwand auch der Druck fester Brüste in ihrem Rücken und die Wärme des nahen Leibes.
Die Frau löste sich von ihr und sprang auf. Und sie schimpfte noch im gleichen Moment los.

„Sie ist weit davon entfernt, für dich schon wieder bereit zu sein“, rief sie energisch.
„Aber für dich war sie es?“, grollte eine tiefe, kaum menschliche Stimme zurück.
Etwas Vertrautes schwang in ihr mit.
„Das… ist etwas anderes“, antwortete die Frau mit leichtem Zögern.

Shadiya drehte sich auf den Rücken und sah sich um. Sie war in einem kleinen Raum mit steinernen Wänden. Öllampen spendeten Licht, denn die Läden des einzigen Fensters waren geschlossen. Es war eindeutig einer der Räume des Klosters.
Sie lag auf einem Bett, wie es ganz gewiss keinem der einfachen Priester oder Novizen gehörte. Dafür war es beileibe zu bequem. Auch wenn das zum Teil von einem großen, schweren Fell herrührte, welches man darüber ausgebreitet hatte.
Ganz offensichtlich hatte sich jemand des Raumes bemächtigt. Und dieser jemand stand nun mit dem Rücken zu ihr direkt vor der Lagerstatt.

Sie war groß für eine Frau. Und muskulöser, als es Shadiya jemals bei einem Weib gesehen hatte. Schwarze Haare fielen ihr lang über den Rücken, bis hinab auf einen festen Hintern. Sie waren zu einem einfachen Zopf gebändigt, der von zwei geflochtenen Bändern gehalten wurde. Nein, nicht Bändern, sondern dünnen, geflochtenen Zöpfen ihres eigenen Schopfes.
Die Haut der Frau war von Ornamenten bedeckt, die ihr seltsam bekannt vorkamen. Sie hatte bereits etwas Ähnliches gesehen. Die Muster schienen Teil der Haut zu sein und waren mit schwarzer Farbe nachgezeichnet. Farbe, die sich selbst durch Blut nicht abwaschen ließ.

Langsam kehrte ihr Erinnerungsvermögen zurück. Im gleichen Moment, als sie vor der Frau den Mann entdeckte, erkannte sie ihn auch. Es war der Kartare, der sie im Keller der Festung genommen hatte. Sie auf ihr eigenes Flehen hin schändete und sich dabei… dabei immer mehr… in einen Wolf zu verwandeln schien.
So wie… jetzt auch!

„Trollscheiße, Skjala!“, knurrte der kaum mehr menschliche Krieger die Frau an. „Du reißt mir fast die Eier ab für das, was ich mit ihr getan habe und fällst dann selbst über sie her!“
„Ich… Sie…“, stammelte die Kriegerin und es klang seltsam unpassend, sie so unsicher zu hören. „Sie ist ein Baumgeist!“
Shadiya rang keuchend nach Atem. Woher…?

Das Geräusch ließ die Frau herumfahren und der Krieger trat einen Augenblick später aus ihrem Schatten und sah nun wieder ganz und gar menschlich aus. Und er ähnelte ihr, wie nur Blutsverwandte einander glichen.
‚Wo hast du so küssen gelernt?‘, erinnerte sie sich gefragt zu haben.
‚Bei meiner Schwester‘, hatte er geantwortet.
Es war also nicht verwunderlich, in zwei Paar dieser silbrig-blauen Augen zu sehen, die gleichermaßen neugierig auf sie hinab blickten. Aber es blieb dennoch eine atemberaubende Erfahrung, denn diese Augen waren so viel durchdringender als die eines Menschen.

„Wie kannst du wach sein?“, fragte die Frau erstaunt. „Du solltest tief und fest… Bei den Ahnen!“
„Was?“, kommentierte der Krieger den plötzlichen Ausruf alarmiert.
Shadiya selbst hielt nur vor Schreck die Luft an.
„Ihre Wunden!“, raunte die Kartarin - denn nichts anderes war die Frau natürlich - ehrfurchtsvoll. „Sie sind noch weiter verheilt. Sie ist beinahe genesen!“

Die junge Frau folgte den Blicken der beiden Fremden und sah an sich hinab. Und sie stellte mit mildem Befremden fest, dass sie natürlich völlig nackt und fast schon einladend ausgebreitet vor ihnen lag.
Weniger mild war ihr die Erkenntnis, dass Wundmale und Brandnarben ihren einst fast makellosen Körper entstellten. Auch wenn sie eigentlich nichts anderes hatte erwarten dürfen, nachdem sie sich nun wieder an die Geschehnisse im Keller erinnerte.
„Dreckige Gottesjünger…“, zischte sie wütend. „Mögen sie im Feuer ihrer eigenen Hölle schmoren.“

„Ihre Geister werden im Nichts zwischen den Welten umherirren, und sich nur an den Schmerz ihres Todes erinnern“, sagte der Krieger grimmig. „Unsere Rache wird deine Rache sein.“
Rache? Ohja… Einmal ausgesprochen fühlte Shadiya, wie das Bedürfnis nach Rache in ihr wuchs. Sie wollte Rache an den Dienern des Gottes, der seine Anhänger aufwiegelte, sich gegen die Geister der Natur zu wenden. Und der guthieß, dass eine Frau gefoltert wurde, deren einziges Verbrechen die Liebe war.
Als sie wieder aufblickte, fand sie in den Gesichtern der beiden Kartaren ein Spiegelbild dieses Wunsches.

Die drängenden Fragen in Shadiyas Geist standen in einem seltsamen Kontrast zu der Ruhe, die sie fühlte. Selbst der brennende Hass und das Sehnen nach Rache loderten nicht, sondern glühten nur. Heiß zwar und nur durch Blut zu löschen, aber nicht verzehrend, wie sie es eigentlich erwartete.
Als sie die beiden entschlossenen Gesichter ansah, verstand sie mit einem Mal, dass sie tatsächlich gestorben war. Das unschuldige, leichtfertige Mädchen, das sein Herz an einen Narren gehängt hatte und diesem törichterweise sogar bis in die Ordensfestung nachstellte, war tot.
Es war vom Verrat ihres Liebsten gelähmt und von den Folterwerkzeugen des Inquisitors verletzt worden, um dann dem wilden Krieger von jenseits des Meeres zum Opfer zu fallen.
Was nun hier auf den Fellen lag und zu den beiden nicht mehr Fremden aufblickte, war aus der Asche ihres früheren Selbst neu geboren worden. Und es war eine schwere, schmerzhafte, aber auch lustvolle Geburt gewesen.

Unwillkürlich fühlte sie, wie ein Lächeln über ihre Züge huschte. Und sie sah, wie sich Verwirrung in die Blicke der silbrigen Augen schlich, als die beiden Geschwister dies entdeckten.
‚Danke‘, wandte sie sich stumm an die Göttin, die ihr beigestanden und sie mit ihrer Gabe durch die vergangenen Torturen geführt hatte.
Dann richtete sie sich auf die Ellenbogen auf und stemmte sich in eine aufrecht sitzende Position. Ihr Körper fühlte sich zwar ein wenig geschwächt, aber nicht einmal ansatzweise so zerschlagen an, wie es eigentlich der Fall hätte sein müssen.

Woher wusste die Kriegerin, dass sie von einem Baumgeist abstammte? Warum hatte der Krieger sie nicht getötet? Was war inzwischen geschehen? Was erwartete sie von nun an und wie würde es weitergehen?
All diese Fragen verblassten und verloren an Bedeutung. Sie lebte und ihr Geheimnis war keines mehr. Was geschehen war, war geschehen und in der Zukunft lag der Wunsch nach Rache, den diese berüchtigten Barbaren aus irgendeinem Grund teilten. Also würde sie bei ihnen bleiben, wenn ihr das gestattet wurde. Oder ihren eigenen Weg gehen, wenn es sein musste.
Nur wenig blieb zurück, was sie gern in Erfahrung bringen wollte. Und das beschränkte sich für den Moment ganz allein auf diese beiden Menschen - oder was auch immer der Krieger genau sein mochte.

„Shadiya“, sagte sie und machte Anstalten, sich zu erheben.
Die Art, wie die Frau an ihre rechte und der Mann an ihre linke Seite sprangen, um sie zu stützen, entlockte ihr ein weiteres Lächeln.
Sie konnte durchaus stehen. Aber sie hatte auch nichts dagegen, von beiden Seiten gestützt zu werden. Nein, ganz und gar nichts, wie sie feststellte. Im Gegenteil.

Der Mann zu ihrer Linken war so groß und stark wie ein Schmied, aber weniger massiv. Seine dunklen Hautbilder auf Gesicht und nacktem Oberkörper verliehen ihm ein bedrohliches Aussehen und zu wissen, dass er ein Gestaltwandler war, hätte sie einschüchtern sollen. Aber als er nach ihr gierte, war es nicht Blut gewesen, was er wollte.
Seine schwarzen Haare waren zu langen, dünnen Zöpfen geflochten und einige davon kitzelten sie, als er ihren Arm ergriff. Seine Haut fühlte sich warm an. Nicht weich, aber auch nicht rau. Vom Wetter gegerbt.
Und der Griff seiner großen Hände fühlte sich… gut an. Fest, sanft, stark - ein Griff, auf den man sich stützen konnte. Und der, wie sie wusste, fordernd und hart zu werden vermochte. Bis sich spitze Krallen in ihre zarte Haut bohrten und Blut hervortrat. Bis nur noch der Segen der Göttin ihr ermöglichte, vor seiner drängenden Männlichkeit zu bestehen.

Auf der anderen Seite stand die Frau, in deren Armen und unter deren Liebkosungen sie erwacht war. Nicht viel kleiner als ihr Bruder und ebenso schwarzhaarig. Ihm wie aus dem Gesicht geschnitten und doch mit unverkennbar weiblichen Zügen, die allerdings eine sichtbare Härte aufwiesen.
Auch sie trug diese Hautbilder. Denen ihres Bruders sehr ähnlich. Aber es entstellte sie nicht, wie es eine andere Frau entstellt hätte. Es passte zu ihr, denn sie war vor allem anderen ohne Zweifel eine Kriegerin. Und erst danach… eine sanfte Heilerin. Und Liebhaberin…
Ihr Griff war ähnlich fest und doch zärtlicher. Dennoch war sie nicht weibliche Verlockung, sondern frauliches Drängen, wie ihr Bruder die männliche Variante des Begehrens darstellte. Nicht zwei Seiten einer Münze, sondern zwei verschiedene Münzen des gleichen Wertes.

Nach einem Augenblick des Zögerns sah sie zuerst nach rechts, direkt ins Gesicht der Frau an ihrer Seite.
Die silbrig-blauen Augen waren leicht geweitet und blickten leicht erstaunt. So als wäre sie in einer unvertrauten Situation und nicht gänzlich sicher, was zu tun war.
„Shadiya“, wiederholte sie leise.
Die Kriegerin erwiderte ihren Blick und sah sogar etwas unsicher aus.
„Skjala“, antwortete sie mit einem Wispern.

Mit einem Lächeln dankte ihr Shadiya und wandte ohne Eile den Kopf zur Linken. Auch dort erwarteten sie Augen, in denen ein Hauch von Unsicherheit verborgen lag.
„Vigulf“, sagte er ohne weitere Aufforderung.
Das dankbare Lächeln ließ ein kurzes Funkeln in seinen Blick treten.

Sie dachte nicht nach, bevor sie fortfuhr und aussprach, was sie im Sinn hatte. Es war fast, als würde eine unsichtbare Hand sie führen und ihr eingeben, welchen Weg sie beschreiten sollte. Eine Hand, der sie voll und ganz vertraute.
„Ich weiß nichts von euch“, erklärte sie leise und ließ den Blick langsam von rechts nach links wandern. „Aber ihr habt mein Leben genommen und es mir wiedergegeben. Dank euch habe ich mein altes Leben hinter mir gelassen und kann dennoch Rache nehmen.
Ich… möchte euch gern eine Schwester sein. So… ganz genau so und vielleicht noch mehr, wie ihr einander Bruder und Schwester seid…“

Beinahe gleichzeitig festigten sich die Griffe der Hände an ihren Armen. Und viel lag schon allein in diesen unwillkürlichen Gesten verborgen.
Noch mehr fand Shadiya in den Gesichtern der beiden. Sorge, Bedenken und Andeutungen von Warnungen, aber kein Misstrauen und vor allem: keine Ablehnung.

„Shadiya…“, setzte Skjala mit bedeutungsschwangerer Stimme an.
Mit einem Blick in ihre Augen unterbrach sie die Kriegerin.
„Dein Bruder ist ein Wolfmann“, sagte Shadiya, ohne zu zögern. „Und du hast Augen wie er und wie ich sie noch nie gesehen habe. Bedeutet das, dass du eine Wolffrau bist?“
Skjala schluckte leicht und erwiderte: „Ein Wer, ja. So nennen wir jene, in denen die Geister von Raubtieren sehr stark sind. Die Zeichen in unseren Gesichtern warnen davor.“
„Wovor?“

Die Antwort kam von der anderen Seite, also wandte Shadiya den Kopf dorthin.
„Vor unserer Wut, die hervorbrechen kann. Vor der Raserei, die so schlimm werden mag, dass wir nicht Freund von Feind zu unterscheiden wissen. Und davor, mit uns das Lager zu teilen, denn der Fluch geht meist auf die Nachkommen über.“
„Aber das hielt dich nicht davon ab, mich zu nehmen“, sagte sie ganz ruhig.
Er zuckte zusammen und sah sogar schuldbewusst zur Seite. Fast so, als würde er Scham empfinden. Ganz und gar nicht so, wie sie es von einem der berüchtigten Kartaren erwartete.

„Das ist nicht unsere Art und noch muss er mir erklären, was in ihn gefahren ist, als er dich gegen deinen Willen nahm“, knurrte Skjala von rechts.
Shadiya sah sie an und erkannte nicht wenig Wut auf den Bruder im Blick der Kriegerin.
„Er tat es nicht gegen meinen Willen, Skjala“, antwortete sie an seiner statt. „Ich bat… nein, flehte ihn an, mich zu schänden und wie eine Hure zu nehmen. Ich… wollte ihn und wenn es das Letzte wäre, was ich erlebte.“
„Und auch du konntest ihr nicht widerstehen, Schwester“, brummte er von der Seite.

Skjala verengte zwar die Augen und presste die Lippen aufeinander, aber ihr Schweigen ließ sich als Eingeständnis ihrer eigenen Schuld deuten.
„Ist es bei eurem Volk verboten, bei einem Wer zu liegen, wenn man es… will?“
Langsam verneinte die Kriegerin das mit einem Kopfschütteln.
„Also könnt ihr auch wieder bei mir liegen und mich haben, wenn ich das will?“, vergewisserte Shadiya sich. „Falls ihr das auch wollt…“

Die Art, wie Skjala kurz nach Luft schnappte und sie fassungslos anstarrte, passte perfekt zum verblüfften Schnauben ihres Bruders. Es lag keine Ablehnung darin. Nur völliges Unverständnis.
„Du willst…?“, keuchte die Kriegerin. „Hast du ihn gerade nicht… gesehen?“
„Doch, habe ich“, erwiderte Shadiya.
„Schreckt dich das nicht?“
„Schreckt es dich?“, fragte sie zurück.
Im kurzen Aufblitzen der Erinnerung an vergangene Lust in Skjalas Augen lag mehr als genug Antwort auf diese Frage.

Als in diesem Moment die Tür zur Kammer kraftvoll aufgestoßen wurde, erschrak nicht nur Shadiya. Am Zucken der Hände, bevor sich die Griffe an ihren Armen lösten, erkannte sie, dass auch die beiden Kartaren überrascht waren.
Am Rande bemerkte sie, dass die Tür nicht einfach geöffnet und gestoßen worden war, sondern der einfache, hölzerne Riegel abgerissen wurde und zu Boden fiel.
Dann nahm allerdings die Gestalt im Türrahmen ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch, denn etwas Derartiges hatte sie noch niemals gesehen.

Ein Bär stand dort, wie sie noch keinem begegnet war. Auf die Hinterbeine aufgerichtet, aber vorgebeugt, weil selbst die hohe Decke des Korridors zu niedrig für ihn war. Breit wie die Tür und weiß mit einem gelblichen Schimmer, der beinahe wie blondes Haar gewirkt hätte, wenn das Fell nicht so zottig gewesen wäre.
Es war ohnehin kein gewöhnlicher Bär, wie man ihn hierzulande kannte. Es musste ein Schneebär sein, wie er in Sagen und Legenden manchmal vorkam. Doch diese Kreatur hatte die Augen eines denkenden Wesens, auch wenn sie blutunterlaufen waren und voller Hass und berserkerhafter Wut.

Mit einem Brüllen, das ihr durch Mark und Bein drang und sie lähmte, drängte er sich durch die Tür und richtete sich dahinter wieder ein wenig auf. Seine silbergrauen Augen ganz und gar auf sie fixiert.
Nein, nicht auf sie selbst, sondern auf ihren Körper und die Brandmale darauf, ging ihr auf. Auf die siebenzackigen Symbole des verhassten Gottes, der seine Diener aussandte, um alles Gute und Schöne zu vernichten und den Menschen statt Hoffnung nur Schuld und Buße zu bringen.
Diese Zeichen schienen den unbändigen Hass der Kreatur noch mehr anzufachen.

Skjala und Vigulf sprangen gleichzeitig vorwärts und dem Bären in den Weg. Sie riefen etwas in ihrer eigenen Sprache und schienen die Bestie ablenken zu wollen. Oder vielleicht wollten sie ihn auch beruhigen.
Aber die Augen blieben auf Shadiya gerichtet und die wurde sich mit einem Mal bewusst, dass sie noch einmal dem Tod gegenüberstand. Diesmal jedoch in einer Form, gegen die ihr die Gabe der Göttin der Lust keinen Beistand leisten konnte.
Und doch stellte sich keine Furcht ein, sondern nur ein Gefühl der leisen Trauer darüber, dass sie ihren Wunsch nach Rache nicht würde erfüllen können. Und darüber, dass sie niemals mit den beiden Kartaren gemeinsam das Lager teilen würde.

Unbeirrbar stapfte die Bestie auf sie zu und wehrte mit einer fast unwirschen Armbewegung Vigulf ab, der ihm in die Seite springen wollte. Skjala gelang dieser Angriff auf der anderen Seite zwar und aus dem Augenwinkel sah Shadiya auch, wie sich der Körper der Kartarin zu verformen begann, aber sie konnte die Vorwärtsbewegung nicht aufhalten.
Ihr Bruder jaulte auf und der Laut wurde zu einem wütenden Heulen, als auch er seine Gestalt wandelte und sich wieder auf die Beine kämpfte, nachdem er von der Wand abgeprallt war. Doch er würde es nicht rechtzeitig schaffen.
Und auch wenn die langen Klauen von Skjalas nicht mehr menschlicher Hand sich so tief in den Bärenkörper gruben, dass sich dessen Fell rot färbte, kam er schnell näher.

Traurig seufzte sie und hob dann den Kopf, als der Bär seine gewaltige Pranke hochbrachte. Mit einem Schlag würde er ihr Leben beenden. Ihr kurzes Leben, in dem sie nichts vollbracht hatte.
Aber sie verzieh dem Wesen, das ohne Zweifel auch ein Wer war. In seinen Augen, hinter der maßlosen Wut, sah sie eine Trauer um einen Verlust, der weit über das hinausging, was ihr genommen worden war.

Ihr letzter Eindruck, bevor mehr als fingerdicken Krallen sich ihrer Brust entgegen senkten, war der eines winzigen Zögerns und eines Flackerns des Zorns in seinem Blick.
Dann verging die Welt in einem feurigen Ball aus Schmerzen.


*****

Mittwoch, 26. Februar 2014

Junge Liebe - Kapitel 2 - Teil 08

Junge Liebe
Kapitel 2
Eine Geschichte über die Jugend, die Liebe und erste Male.
© 2012-2014 Coyote/Kojote/Mike Stone

*****

Teil 01
Teil 02
Teil 03
Teil 04
Teil 05
Teil 06
Teil 07
Teil 08

*****

Ein weiteres Mal meinen Dank wieder an Theodor und die anderen Erstleser.
Und meinen Dank an alle, die dieser Geschichte über zwei Jahre, zwei Kapitel und gestandene 38 Subkapitel die Treue gehalten haben.
Mehr dazu noch im Epilog vom Epilog am Ende... ;-)

***** 


XXXVII. - Epilog

Still stand Peter vor dem Grabstein und ließ den Kopf hängen. Die Trauergesellschaft im Hintergrund löste sich auf und ging ihrer Wege. Aber die Leute interessierten ihn gerade nicht.

Er sagte nichts. Es war schließlich nur ein Haufen Erde mit einem toten Körper darunter und einem Gedenkstein darauf.  Kein… Tempel der Seele oder so etwas.
Er stand einfach nur da, starrte die Grabinschrift an und dachte an gar nichts. Hätte man ihn aufgefordert, etwas zu sagen, hätte er nicht einmal gewusst, was das wohl hätte sein sollen.

Als dann der bewölkte Himmel aufbrach und der kleine Friedhof, der zu seinem Heimatdorf ebenso gehörte, wie zum Nachbarort, in strahlenden Sonnenschein getaucht wurde, blickte er schließlich auf.
Das Timing war einfach zu perfekt, als dass nicht…
Fast musste er lächeln, als er die Schritte auf dem Kiesweg hörte.

„Bist du… fertig?“, fragte Nadia sanft.
Peter nickte. Und dann drehte er sich um und sah seine Freundin an, die mit diesem kleinen Funken Sorge in den Augen seinen Blick erwiderte, den sie seit jener Nacht vor genau einem Monat immer zeigte, wenn er zu nachdenklich wurde.
So wie er es heute eindeutig gewesen war.

Langsam setzte er sich in Bewegung. Das Bein schmerzte noch immer, wenn er es belastete. Und das würde es auch noch eine ganze Zeitlang tun, sagten die Ärzte. Schließlich hatte er eine Kugel hinein bekommen.
Mit jedem leichten Zucken in seiner Miene wurde seine Freundin unruhiger und schließlich wartete sie nicht mehr länger, sondern glitt an seine Seite. Und er ließ sie unter seinen Arm schlüpfen und ihn ein wenig stützen.
Auch wenn das eigentlich wirklich albern war.

Und noch alberner wurde es, als wenige Schritte weiter Patty von der Bank aufstand, auf der sie gewartet hatte, und an seine andere Seite trat.
„Ich kann mittlerweile wieder alleine laufen“, beschwerte er sich.
„Musst du aber nicht“, gab seine… zweite Freundin zurück. „Du hast nämlich uns.“
„Die Ärzte sagen, ich soll das Bein vorsichtig belasten“, widersprach er.
„Und das hast du heute lang und schmutzig getan“, wurde er belehrt.
Und zwar zweistimmig.
Widerspruch war demnach zwecklos.

Seufzend ergab er sich in sein Schicksal und sie verließen gemeinsam den Friedhof in Richtung Parkplatz. Dort stand Oma Renate zusammen mit dem Pastor, der die Grabrede gehalten hatte.
Als sie näherkamen blickte der Gottesmann auf und seufzte leise. Was ihm missfiel war Peter durchaus bewusst. Aber das war ehrlich gesagt das Problem des Kirchenmannes.

„Danke für die schöne Rede“, sagte seine Oma zum Abschied zu ihm. „Sie hätte sich gefreut, sie zu hören.“
„Sie hat es gehört, Renate“, lautete die Antwort. „Sie ist jetzt bei unserem Vater im Himmel und hört und sieht alles.“
„Da bin ich sicher“, erwiderte die Rentnerin und schoss einen warnenden Blick in Richtung des Trios ab.
„Ich wünschte, er würde nicht nur zusehen, sondern auch mal was unternehmen, wenn die Kacke so richtig am Dampfen ist“, murmelte Nadia dennoch.
„Ich versichere dir, meine Tochter“, gab der Pater sofort zurück als hätte er nur darauf gelauert, dass sie das Wort ergriff, „Er sieht alles und am Ende aller Tage wird jeder für seine Taten gerichtet werden.“

So ziemlich nichts auf der Welt hätte Peter dazu bringen können, sich in diese Diskussion einzumischen. Auch wenn er niemals von Nadia verlangen würde, ihre Meinung zurückzuhalten. Egal, was seine Oma davon hielt.
Aber die Art, wie der Pastor dabei nacheinander seine beiden Freundinnen abschätzig musterte und dann kurz einen strafenden Blick auf ihn warf, war inakzeptabel.

Es lag auf der Hand, dass es dem Priester nicht gefiel, auf seinem Friedhof zwei Frauen anzutreffen, die in seinen Augen wohl ‚frivol‘ gekleidet waren. Wobei Peter fand, dass sie sich, dem heutigen Anlass gemäß, sogar noch sehr zurückhielten.
Beide trugen schwarze Kleider, die bis zur Mitte der Oberschenkel reichten und vorne hochgeschlossen waren. Nur die Rückenausschnitte waren mit verwegen noch ein wenig unzureichend beschrieben, weil sie wirklich bis hinunter zum Po reichten. Und die freie Haut sowie die enganliegenden Schnitte verrieten auch, dass es an Unterwäsche absolut sicher mangelte.
Aber das ging den Pfaffen verdammt noch mal nichts an. Und was er von den Gerüchten hielt, die über die drei kursierten, war Peter ebenfalls scheißegal.

„Wo war Gott eigentlich, als mich mein Bruder vergewaltigt hat?“, fragte allerdings Patty, bevor er sich seine Worte zurecht gelegt hatte. „Bei einigen Dutzend Malen hätte er reichlich Zeit gehabt, mal was zu unternehmen, finde ich. Oder schaut er lieber zu?“
Der Pastor sah aus, als hätte man ihm einen Tintenfisch ins Gesicht geklatscht. Nach Luft schnappend suchte er nach einer passenden Erwiderung, aber er bekam keine Gelegenheit dazu.
„Sie entschuldigen uns?“, fragte Nadia. „Wir müssen auf eine Orgie zu Ehren des Teufels.“

Peter war nicht exakt nach Grinsen zumute, als sie alle in seinen Wagen stiegen. Und seine Oma sah aus, als wäre ihre Miene aus Granit. Aber sie sagte nichts, bis Nadia das Auto vom Parkplatz gesteuert hatte.
„Wenn ihr noch einmal so mit dem Pastor redet, werde ich euch alle der Reihe nach übers Knie legen“, verkündete sie dann. „Ganz egal, wie sehr er es verdient haben mag.“
„Ja, Oma“, bestätigten sie alle drei nacheinander artig.
„Verlogene Lausebande!“, beschwerte sich die Rentnerin daraufhin entrüstet. „Euch werd ich heimleuchten!“

Peter entspannte sich auf dem Beifahrersitz. Wie wütend sie wirklich war, hatte er nicht genau abschätzen können. Aber nun war klar, dass sie es ihnen nicht übel nahm.
Seit jener Nacht hatte sie sich verändert. Sie alle hatten sich verändert. Und manchmal machte es das schwer, die Reaktionen abzuschätzen, weil auch die sich natürlich verändert hatten.
Sie waren alle gerade dabei, mit den Veränderungen zurecht zu kommen.

*****

Walther war nicht wirklich überrascht, als er den Wagen des jungen Bübler erblickte, wie er sich der Auffahrt näherte. Er war selbst gerade ausgestiegen, nachdem er mit seiner Frau auf der Trauerfeier gewesen war. Soviel zumindest - da hatte Renate wohl recht - waren sie ihr schuldig gewesen.
Also hatte er sich von Elfriede den Sonntagsstaat herauslegen lassen und sich notgedrungen in Schale geworfen. Anders hätte seine Frau ihn nicht mitgenommen und zu Hause gelassen hätte sie ihn natürlich auch nicht.
Bei der Entscheidung zwischen unbequemem Anzug und lautstarkem Streit, der zu unbequemen Anzug führte, hatte er weise auf die Streiterei verzichtet.

Als er die Haustür geöffnet hatte, damit der Fritz schon einmal an die frische Luft konnte, fiel sein Blick auf die Fahrerin des Autos und er zögerte nicht, sich einzugestehen, dass er den Peter ein ganz klein wenig beneidete.
Zwar trug der Junge ordentliche Kleidung, aber seine Liebste - oder die eine seiner beiden Liebchen, wie es im Grunde unverkennbar wirklich war - hätte ihn nicht in den furchtbaren Aufzug gezwungen, den er so hasste. Sie zwang ja nicht einmal sich selbst in etwas, was ihr nicht gefiel.
Und insgeheim hatte er da auch nicht wirklich etwas dagegen.

„Diese Kinder“, murmelte seine Frau kopfschüttelnd, als die drei zusammen mit Renate aus dem Wagen stiegen.
In ihrer Stimme lag eine gewisse Missbilligung, wie es auch zu erwarten war. Nicht, dass Walther selbst so sehr etwas an den engen, kurzen Kleidchen auszusetzen hatte, aber für eine Beerdigung - selbst wenn sie strenggenommen nicht direkt daran teilgenommen hatten - war es doch ein unpassender Aufzug.
„Als ich in dem Alter war…“, schnaubte sie.
„Hättest du keinen Deut schlechter in so einem Kleid ausgesehen“, hakte er unwillkürlich ein.

Elfriede fuhr herum und musterte ihn. Aber es lag weniger Schärfe in ihrem Blick, als er eigentlich ob seiner unbedachten Worte befürchtet hätte.
„Kaum schlechter?“, fauchte sie, nicht ohne einen eindeutig spielerischen Unterton. „Warst du es nicht, der mir ein Liedchen auf meine beiden Hügel dichtete, die… Wie war das noch?“
„Alle anderen Berge dieser Welt in den Schatten stellen“, half er ihr aus. „Sapperlot! Das weißt du noch? Ich dachte.. diese Peinlichkeit hättest du längst vergessen.“

Nicht zum ersten Mal in den letzten Wochen, stockte Walther der Atmen, als seine Frau ihn mit einem Ausdruck anblickte, den er in den Jahrzehnten davor schon fast vergessen hatte. Kokett blinzelnd und mit einem Hauch Rot auf den Wangen, schmunzelte sie.
„Vergessen, wie du vor mir knietest und es sogar geschafft hast, nicht nur dauernd auf die Hügel zu starren, denen du dein Ständchen brachtest, Walther Müller?“, hauchte sie leise. „Bei dem, was du danach mit mir und meiner armen, ahnungslosen Unschuld angestellt hast? Also wirklich…“
„Mach nur so weiter“, brummte er ganz und gar nicht brummig, „dann zeig ich deiner Unschuld gleich noch einmal, was eine Harke ist.“

Kurz verfluchte er das Vierergespann, das sie nun erreichte. Wären sie allein gewesen, hätten sie wohl nun gleich noch einmal gefeiert, dass sie so eine Art zweiten Frühling erlebten. Stattdessen musste er sich aber zusammenreißen und sich dem Ursprung dieses frischen Winds zuwenden, wenn man so wollte.
Denn wem sonst, wenn nicht diesen unmöglichen Kindern, war das wohl zu verdanken…?

Wieder einmal versetzte es ihn in Erstaunen, dass allen voran die kesse Blondine sich nicht mit einem Handschlag abspeisen ließ. Einmal hatte sie gezögert und sich bei Elfriede die Erlaubnis eingeholt, aber nun fiel sie ihm um den Hals und drückte ihn, wie sie es seit jener Nacht im Wald immer tat.
Und die kleine Patrizia, an die er nicht mehr guten Gewissens als das ‚Pfaffer-Mädchen‘ denken konnte, weswegen nicht nur er sie mittlerweile als die ‚Bübler-Patty‘ betrachtete, die sie nur dem Namen nach nicht war, tat es dem Wirbelwind sogleich nach.
Nur der Peter beschränkte sich, wie es eben seine weniger stürmische Art war, auf einen festen Händedruck. Renate hingegen drückte ihn rasch, wie sie es aber ja nun schon immer getan hatte.

Nachdem dann alle Umarmungen verteilt waren und auch Elfriede von jedem geherzt worden war, lud er sie alle ins Haus ein, wo er die Kinder mit an den Esszimmertisch nahm, damit die Frauen einen Kaffee aufsetzen konnten.
„Um der Wahrheit die Ehre zu geben, weiß ich nicht recht, was ich dir sagen soll“, meinte er in Richtung von Patrizia.
„Schon okay“, antwortete die gelassen. „Sie ist tot und ich bin nicht unglücklich deswegen.“
„Ich bin sicher, sie wollte nie…“, setzte er an.
„Sie wollte vielleicht nicht, aber sie hat, Onkel Walther“, unterbrach die Kleine ihn. „Und sie hat auch ohne den Dachschaden, den Pierre ihr verpasst hat, schon lieber geschrien oder geschlagen und ihren Frust an mir ausgelassen.“

Dagegen ließ sich nichts sagen, wie er eingestehen musste. Elvira Pfaffers Tochter war schon immer ein Sorgenkind gewesen. Hatte ihrer Mutter viel Kummer bereitet und keinen rechten Weg gefunden. Und niemand im Dorf hatte sich so recht aufraffen können, sie zurück auf die richtige Bahn zu führen.
„Ehrlich gesagt bin ich irgendwie erleichtert“, sagte Patrizia noch. „Statt Tanja liegt nun meine Mutter unter der Erde, ich bin frei… und glücklich. Alles hat sich zum Guten gewendet.“
„Dann ist die Tanja nun außer Lebensgefahr?“, erkundigte er sich erfreut.
„Die Ärzte sagen, sie könne jeden Tag wieder zu Bewusstsein kommen, aber noch kann niemand etwas Genaues sagen“, erklärte Peter.

„Na, wenn das mal nicht…! Hörst du, Elfriede? Die Tanja…“, rief er.
„Jaja, Walther“, kam die Antwort aus der Küche. „Ich weiß doch schon. Oder was glaubst du, worüber wir hier reden, du Torfkopf?“
„Werd mal nicht frech, Mädel“, gab er vergnügt zur Antwort. „Sonst singe ich dir nachher nicht das Lied von den Hügeln.“

Die Kinder verstanden diese Andeutung natürlich nicht. Sie lächelten, weil er mit seiner Frau ausgelassen scherzte. Aber Elfriede schob den Kopf ins Zimmer und starrte ihn mit großen Augen an. Und er nickte, um ihr zu bestätigen, dass er genau das gemeint hatte.
Die roten Bäckchen, mit denen sie in die Küche zurückkehrte, sollte sie man schön selbst der guten Renate erklären…

„Hast du nun noch Ärger von der Polizei zu befürchten?“, erkundigte sich Peter, den dieser Schuh wohl weiterhin drückte.
„Nah…“, machte Walther und winkte ab. „Erst wollten sie sich ja gar nicht mehr einkriegen, aber wie sich dann herausgestellt hat, dass die Bande selbst reichlich Schießeisen dabei hatte. Und sogar Verbindungen zu irgendwelchen Menschenhändlern und dergleichen…
Notwehr wird’s wohl werden und nochmal sollte ich sowas nicht machen. Aber das wars dann auch…“

Das klang so lapidar, obwohl es seinem alten Freund Erich doch ein paar graue Haare bereitet hatte. Eine Luger und eine Maschinenpistole aus dem Krieg waren eben doch was anderes als ein Jagdgewehr. Wären die beiden Polizisten im Streifenwagen, der zuerst am Ort des Geschehens war, nicht solche Jungspunde gewesen, wäre das wahrscheinlich nicht gar so schlimm gewesen. Aber so hatten sich die Hosenscheißer kaum eingekriegt, als sie sich einen Überblick verschafften.
Zum Glück jedoch war man hier nicht in der Großstadt. Der Staatsanwalt war ein vernünftiger Mann, die nun ermittelnden Beamten kannte Walther fast alle von der Bundeswehr und der zuständige Richter wohnte selbst im Nachbardorf und war ein alter Freund.
Da war kein Grund zur Sorge. Außer natürlich für die Mistkerle, die jetzt in Untersuchungshaft saßen.

„Ich fasse immer noch nicht, dass es nicht einmal in den Zeitungen stand“, meinte die kesse Nadia. „Normalerweise hätte das die erste Seite der Bild komplett einnehmen müssen. Die stürzen sich doch auf sowas, wie Haie, die Blut gerochen haben.“
„Aber nur, wenn sie Wind davon bekommen, dass es sich lohnt“, erklärte Walther. „Und wenn die Lokalzeitungen es nur auf Seite zwölf in einem winzigen Artikel erwähnen, ist es wohl nicht aufsehenerregend genug.“

Der Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens war nicht gänzlich erleichtert. Wie es schien, machte sie sich ihre ganz eigenen Gedanken darüber, was ein so effektives Netzwerk alter Freunde noch alles anstellen konnte. Und wenn er die Seitenblicke richtig deutete, die sie auf ihre beiden Begleiter warf, drehte sich ihre Sorge in diesem Fall wohl eher um moralische Aspekte.
„Mach dir man keine Gedanken“, sagte er daher ganz offen. „Wir mischen uns schon nicht in Privatangelegenheiten. Deswegen konnte es ja überhaupt erst soweit kommen.“
So ganz beruhigt sah sie daraufhin allerdings noch nicht aus. Also fügte er hinzu: „Und wenn man mal über die schamlose Unverschämtheit hinwegsieht, ist es ja doch ganz niedlich, was ihr Kinder so anstellt.“

Mehr Ermutigung würde es nicht geben. Zu sehr die Zügel schießen lassen durfte man dem Jungvolk nicht. Missbilligende Blicke und anständige Entrüstung waren immerhin das einzige, was die paar brauchbaren Jugendlichen von heute noch davon abhielt, völlig außer Rand und Band zu geraten.
„Wie geht es deinem Bein?“, wechselte er das Thema und wandte sich an Peter.

„Es juckt und zieht gelegentlich“, antwortete der Junge. „Ich werds überleben.“
„Sicher wirst du das. Hast Glück gehabt.“
„Wohl eher ein ganzes Rudel Schutzengel“, widersprach er. „Und deswegen will ich dir auch noch einmal danken. Ohne dich und Oma…“
„Nun, nun…“, meinte Walther ergriffen. „Schon gut, mein Junge.“

*****

Kenny stand unter Strom wie selten zuvor. In gewisser Weise war er sogar aufgeregter, als in dieser Nacht vor vier Wochen. Und das lag ganz einfach daran, dass er festgehalten wurde.
Seitdem es ihm erlaubt wurde, hatte er an Tanjas Bett gesessen. Zuerst auf der Intensivstation und nun in ihrem Krankenzimmer, wo sie seit einigen Tagen langsam aus dem künstlichen Tiefschlaf erwachte.

Eigentlich war es nicht erlaubt, dass er wirklich fast die gesamte Zeit im Krankenhaus verbrachte. Weswegen Kenny den Schwestern auch sehr dankbar war, die ihn deckten. Warum auch immer sie das taten und ihn dabei immer so mitfühlend ansahen…
Die ganze Zeit über hatte er versucht, Tanja das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein war. Er hatte ihr alles, was geschehen war, wohl hundert Mal erzählt. Und dazu auch noch jedes Erlebnis aufgewärmt, dass er mit ihr teilte. Und alle möglichen Dummheiten, die er im Laufe der Zeit verzapft hatte.
Er redete einfach, ohne wirklich darüber nachzudenken. Und seine dauerhafte Müdigkeit, weil er sich kaum ein paar Stunden Schlaf am Stück gestattete, machte daraus wohl ziemlich sinnloses Geplapper. Aber die Schwestern meinten alle, dass Tanja ruhiger war, wenn er ihre Hand hielt und auf sie einredete. Und das war wohl eine gute Sache.

Vor einigen Stunden nun hatte sie seine Hand gepackt und den Druck erwidert. Nicht fest, aber er hatte es gespürt.
In seiner grenzenlosen Aufregung hatte er sofort das halbe Krankenhaus alarmiert, nur um gesagt zu bekommen, dass es völlig normal sei. Sie wachte eben langsam auf und ihr Körper fing nun wieder an, sich mehr zu bewegen. Es musste noch nicht einmal wirklich etwas bedeuten.
Aber Kenny wusste es besser. Er merkte deutlich, wie der Druck stärker wurde, wenn er seine Hand auch nur einen Millimeter bewegte. Als wolle sie keinesfalls zulassen, dass er fortging.
Und selbst wenn… selbst wenn sie ihn für Peter hielt - was er stark annahm - war das wichtig. Es zeigte, dass sie ins Leben zurückkehrte.

Er dachte nicht daran, sie in diesem Zustand alleinzulassen. Irgendwer sollte Peter und Oma Renate und natürlich Tanjas Vater anrufen, aber dieser ‚Jemand‘ würde nicht Kenny sein.
Er blieb eisern an ihrer Seite und redete weiterhin einfach drauflos. Und er hielt ihre Hand, damit sie wusste, dass sie erwartet wurde, wenn sie die Augen aufschlug. Selbst wenn es nicht derjenige war, den sie sicherlich an ihrer Seite vorfinden wollte.

Kenny war kein Idiot. Er wusste schon lange, dass Tanja ihren Cousin wahrscheinlich liebte. Und zwar auf eine nicht wirklich verwandtschaftliche Weise. Und seit kurzem war ja auch klar, woher ihre komischen Anwandlungen kamen. Das einst so rätselhafte Puzzle war ziemlich weitgehend gelöst.
Aber das änderte nichts daran, dass Peter sie nicht so liebte, wie sie sich das wünschte. Und dass dafür Kenny schon so lange in sie verknallt war, auch wenn sie das nicht interessierte.
Und dass wiederum war kein Grund, nicht an ihrer Seite zu sitzen und sich um sie zu kümmern. Ob nun aus Freundschaft oder Liebe, spielte da ja nun wirklich keine Rolle.

Er war wirklich eisern. Und fest entschlossen. Aber im Leben eines jeden Menschen kam der Punkt, an dem es nicht mehr weiterging. Der Punkt, an dem man entweder zur Toilette ging oder sich in die Hose machte.
Und bevor das geschah, musste er dann doch notgedrungen seine Hand aus dem längst fühlbar starken Griff lösen und sich erheben. Müde schlurfte er aus dem Zimmer und zur nächsten Toilette. Den Weg fand er praktisch im Schlaf.
Und der Schlaf fand ihn dann, als er auf der Toilettenschüssel saß. Jedenfalls war er eindeutig nicht nur ein paar Sekunden weggenickt, als er wieder aufwachte, sondern lehnte mir schmerzendem Nacken an der Trennwand zu seiner Linken und hatte Schmerzen in so ziemlich jeder Körperregion.
Rasch machte er sich sauber und zog sich wieder an. Auf dem Weg zum Waschbecken, wo er sich auch Gesicht und Nacken wusch, murmelte er leise fluchend vor sich hin. Und dann beeilte er sich, zu Tanja zurückzukehren, die er weiß Gott wie lange allein gelassen hatte.

„Ach“, meinte eine der Stationsschwestern auf dem Gang, als sie in sah. „Du bist ja doch hier. Ich dachte mir doch, dass du nicht nach Hause gegangen bist.“
„Wieso?“, fragte er sofort alarmiert. „Was ist passiert?“
„Ganz ruhig“, meinte sie sanft. „Deine Freundin ist nur unruhig geworden. Kein Grund zur Sorge.“
Erleichtert atmete er auf.
„Aber sie fragt jetzt dauernd nach dir“, fügte die Frau ganz beiläufig hinzu.

„W-was?“, keuchte Kenny fassungslos. „Sie spricht?“
„Na, so langsam ist sie wieder wach. Und scheinbar vermisst sie dich ziemlich.“
„Sie… sie fragt nach… Peter?“
„Peter?“, wollte die Schwester verblüfft wissen. „Heißt du nicht Kenny?“

Er ließ sie stehen. Er konnte es zwar nicht glauben, aber wenn auch nur ein Fünkchen Hoffnung bestand, dass es wahr sein mochte, musste er es mit eigenen Ohren hören.
Wie von Teufeln gehetzt rannte Kenny zurück zu Tanjas Zimmer, wo eine andere Schwester gerade beruhigend auf sie einredete, während Tanja sich unruhig in ihrem Bett hin und her bewegte.

„Schau“, meinte die ältere Frau sanft. „Da kommt dein Freund ja schon…“
„Kenny?“, nuschelte Tanja undeutlich.
Nun… Okay, es war nicht ganz sicher, ob sie Kenny sagte. Es klang so ähnlich, aber es war ohne den geringsten Zweifel nicht Peters Name, den sie da von sich gab.

Die Krankenschwester lächelte nachsichtig, als Kenny fast über seine eigenen Füße stolperte, um so schnell wie möglich wieder seinen Stuhl zu erreichen. Tanjas leicht erhobene und in der Luft herumtastende Hand hatte er schon ergriffen, bevor er überhaupt saß.
„Ich… Ich bin hier, Tanja“, japste er atemlos. „Ich bins, Kenny…“
„Kenny…“, seufzte sie - diesmal war es eindeutig - und entspannte sich sichtlich.
„Ich bin hier, ich bin hier“, murmelte er immer wieder und küsste ihre Hand, die seine nun spürbar fest ergriffen hatte.

*****

„Ich werde ihn vermissen“, seufzte Angelika, die in der Zimmertür stand, leise.
Ruth blickte sie an und schmunzelte über den leicht verträumten Ausdruck im Gesicht ihrer jüngeren Kollegin.
„Noch bleibt er uns für eine Weile erhalten“, ermahnte sie vielleicht ein ganz klein wenig barsch.
„Tu nicht so, als hättest du ihn nicht ins Herz geschlossen“, sagte ihre Kollegin ihr direkt auf den Kopf zu. „Wir haben alle längst kapiert, dass er sogar unseren Hausdrachen erweichen konnte.“

Ruth schnaubte und sah Angelika böse an, aber im Grunde musste sie einräumen, dass die andere recht hatte.
Dieser schlaksige Bursche war wirklich rührend in seiner Sorge. Und völlig blind, was alles um ihn herum anging. Anfangs war er ein Ärgernis gewesen, denn im Grunde stand er ständig im Weg, wenn die Schwestern sich um das Mädchen mit der Schusswunde im Bauch kümmerten.
Aber wenn dieser Kerl zweimal bei etwas zugesehen hatte, packte er einfach mit an und die Art, wie er sich um seine Freundin ohne die geringste Rücksicht auf sich selbst kümmerte, war schon…

Was machte es, ihm eine Mahlzeit zuzuschieben und ihn ab und zu einige Stunden in einem freien Bett schlafen zu lassen, wenn seine Anwesenheit so einen beruhigenden Einfluss auf die sedierte Patientin ausübte? Die Ärzte mussten es ja nicht erfahren.
Und nun, wo das Mädchen aufwachte, konnte selbst ein Blinder sehen, wie heftig sie seine Gefühle erwiderte. So eine starke Liebe war schon wirklich beneidenswert.

„Zeig ihm, wie er die Stäbchen benutzen soll, um ihren Mund und ihre Lippen zu befeuchten“, wies sie Angelika an. „Und achte darauf, dass sie sich nicht überanstrengt, wenn sie ihre Bekanntschaft erneuern.“
„Gar keine Kussverbote?“, stichelte die andere.
„Ich bin vielleicht ein Drache, aber nicht herzlos“, versetzte Ruth. „Und danke, dass du übermorgen Hannahs Nachtschicht übernimmst.“
„Aber…“

Mehr als ein ganz ernstgemeinter, strafender Blick war nicht nötig, um die Rangordnung wieder herzustellen.
Ruth war nicht herzlos, aber ohne eine strenge Hand würden die jungen Schwestern und die völlig arglosen Ärzte dafür sorgen, dass diese Station im Chaos versank. Und das würde nicht passieren, solange Ruth die Verantwortung trug.

*****

Etwa fünf Wochen später wunderte sich ein Goldschmied namens Hermann über die drei jungen Frauen in seinem Laden.
Die Hellblonde kannte er. Sie hatte einige Sonderanfertigungen bei ihm beauftragt und war nun wieder hier, um diese abzuholen. Die anderen beiden schienen Freundinnen von ihr zu sein.
Jedenfalls auf den ersten Blick.

Sah man genauer hin, hatte die Art, wie sich die beiden Blondinnen im Arm hielten, etwas entschieden mehr als freundschaftliches. Es lag eine Art intimer Vertrautheit in ihrem Umgang, die ihn unwillkürlich an ein Liebespaar denken ließ. Und das war zwar nicht völlig unbekannt, aber doch recht neu, selbst wenn man das Ende der Sechziger Jahre sehr aktiv miterlebt hatte.
Aber wirklich verwirrend war es eigentlich erst im Zusammenhang mit dem Auftrag.

Hermann gab sich keine Blöße. Es war ja schließlich auch nicht so, als mache es ihm etwas aus. Nur seine Neugier weckte es ein klein wenig. Und vielleicht beflügelte es auch um eine Winzigkeit seine Fantasie.
Ganz professionell breitete er die fertiggestellten Arbeiten auf einer Unterlage auf dem Tresen aus. Sie waren exakt so angefertigt worden, wie die energische Blondine es wollte.
Sie hatte seinen Ratschlag, ihn das Material etwas stärker bemessen zu lassen, weil eine so filigrane Ausführung doch sehr zerbrechlich sei, in den Wind geschlagen. Aber wenn sie dafür bezahlte, sollte sie bekommen, was sie haben wollte.

Da es sich offenbar um eine Überraschung handelte, folgte Hermann sogleich dem Wink seiner Kundin, eines der Schmuckstücke zunächst beiseite zu nehmen. Dann lauschte er nicht ohne Stolz der Beurteilung aller drei Frauen, was die Ausführung angeht.
„Ohh…!“, machte die weißblonde, etwas zierlichere Frau ergriffen.
Zaghaft streckte sie eine leicht zitternde Hand aus und berührte die beiden Herzen aus Weißgold.
„Nadia! Die sind… wunderschön!“, hauchte sie. „D-die… sind die… für mich?“
„Natürlich, du Nase“, kicherte die Angesprochene. „Was dachtest du denn?“

Der Kuss, mit dem sich die Kleinere bei ihrer Freundin bedankte, ließ Hermann kurz den Mund offen stehen. Er hatte schon den einen oder anderen leidenschaftlichen oder liebevollen Kuss in seinem Laden erlebt. Meistens, wenn es um Ringe ging. Aber zwei bildhübschen, jungen Dingern dabei zuzusehen, wie sie sich völlig hemmungslos ineinander verloren, war… außergewöhnlich!
Währenddessen trat die gertenschlanke Rothaarige näher und sah sich die Stücke an. Und da war etwas wie Wehmut in ihrem Blick, als sie sie zur Hand nahm.
‚Sei nicht traurig. Du kommst gewiss auch noch dran‘, dachte er sich unwillkürlich, denn was er beiseite gelegt hatte, war sicherlich nicht ohne Grund aus einer Kupferlegierung gemacht, sodass es deutlich rot glänzte.

Vorsichtig und ehrfürchtig nahm sie eines der Stücke, die Hermann an kurzen, kaum einen Zentimeter langen Kettchen hatte befestigen sollen. Sie hielt es eben daran und sah dabei zu, wie sich der herzförmige Anhänger leicht hin und her drehte. Aber ihr Hauptaugenmerk galt dem Namen, der sich als Schrift durch den ansonsten leeren Rahmen zog.
‚Peter‘, lautete dieser bei dem Stück, das sie ergriffen hatte.

„Ich brauche unbedingt eine Halskette dafür“, freute sich die kleinste und wohl auch jüngste des Trios, nachdem sie sich von ihrer Freundin gelöst hatte.
„Glaube ich nicht“, meinte die Rothaarige leise und zum ersten Mal sah Hermann ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht huschen.
„Aber…“, meinte die Weißblonde.

Die Nadia unterbrach sie, indem sie die beiden Herzen aus Gelbgold ergriff. Diejenigen, mit den Namen ‚Peter‘ und ‚Patty‘ darin.
Hermann konnte sich ein überraschtes Keuchen nicht verkneifen, als sie sich die beiden Stücke mit den Enden der Kettchen dort an die Brust hielt, wo er ohne Probleme die Wölbungen ihrer Brustwarzen auszumachen vermochte.
Das hatte er nicht einmal im Entferntesten kommen sehen.

Ähnlich ging es allerdings wohl auch der Weißblonden. Der, deren Name doch nicht etwa Patty lauten würde…?
Im Gegensatz zu der kaum merklich schmunzelnden Rothaarigen riss die ihre Augen weit auf und wurde dann sichtlich rot. Aber in ihre schockierte Verlegenheit mischte sich auch sogleich so eine Art vorfreudiger Aufregung.
„D-das würde ihm gefallen, oder?“, hauchte sie.
„Du hast gesehen, wie er schon auf meine Stäbchen reagiert hat. Das hat mich überhaupt erst auf die Idee gebracht“, erwiderte Nadia. „Aber natürlich musst du entscheiden, ob du das willst. Oder vielleicht auch nur eines davon…“

„Nadia“, unterbrach die Kleinere ihre Freundin, als sich ein leichter Hauch von Zweifel in deren Stimme einschlich. „Das einzige, was mich noch glücklicher macht, als euch beide ganz nah am Herzen zu tragen, wo ihr hingehört, ist zu wissen, dass du mich auch so nah bei dir wissen willst.“
Und damit wiederholte sich die leidenschaftliche Kussdarbietung noch einmal und Hermann fühlte, wie ihm ein oder zwei Schweißtropfen auf die Stirn traten.
„Machen Sie sich nichts draus“, raunte die Rothaarige ihm zu. „Diese Wirkung haben sie auf jeden.“

Nach dem langandauernden Liebesspiel zweier weiblicher Zungen ohne den allergeringsten Anflug von Scham wandte sich Nadia ihm zu und sagte mit strahlendem Lächeln und funkelndem Blick:
„Ich bin tausendprozentig zufrieden. Und jetzt hätte ich gern noch das andere Stück.“
Hermann schluckte, weil er fast weiche Knie bekam, wenn sie ihn so anstrahlte. Aber er schaffte es, ihr das letzte Teil so in die ausgestreckte Hand zu legen, dass niemand einen Blick darauf werfen konnte.

Wieder an diejenige gewandt, die ja nun eindeutig als Patty identifiziert war, erkläre sie:
„Als ich auf die Idee kam, war ich mir noch nicht ganz sicher. Aber jetzt bin ich froh, dass ich noch etwas habe machen lassen. Was meist du dazu?“
Von ihrem Körper gedeckt zeigte sie das Herz aus der Kupferlegierung und Pattys Augen weiteten sich, während sie ein plötzliches Grinsen mit der Hand verdecken musste.
Enthusiastisch nickte sie.

Der Rotschopf stand derweil da und tat, als ob sie sich nicht dafür interessierte. Aber selbst Hermann fiel auf, dass sie nicht nur neugierig war, sondern auch traurig.
Es war keine Enttäuschung, sondern eher wie eine seltsame Melancholie, die diese junge Frau umgab. Und die Art, wie sie diese trug, ließ sie fast ein wenig würdevoll erscheinen. Aber eben auch traurig.

Hermann rätselte für sich selbst ein wenig und wagte im Geiste eine Interpretation dessen, was er angefertigt hatte.
Für die beiden Blondinen waren es jeweils zwei Herzen. Eines mit dem Namen der anderen und je eines mit dem Namen Peter. Was vermuten ließ, dass dieser Bursche ein unglaublicher Glückspilz sein musste. Vor allem, wenn er alle vier Schmuckstücke schlussendlich dort im Augenschein nehmen durfte, wo sie offenbar angebracht werden sollten.
Das fünfte Stück hatte allerdings einen anderen Namen darin. Und es unterschied sich außerdem in einem weiteren, kleinen Detail.

An den vier anderen Herzen hingen noch jeweils zwei ganz kleine Herzchen quer zum Außenrahmen. Sie waren nicht fest verbunden, sondern konnten zwischen den Stellen, wo die Namen mit dem Rahmen verbunden waren, hin und her rutschen.
Zwei weitere Herzen in den Rahmen konnten auf die beiden anderen Personen in dem hindeuten, was offenbar eine Art von Dreiecksbeziehung war. Aber das Herz aus der Kupferlegierung wies drei dieser Anhängsel auf. Und das ermöglichte noch eine andere Deutung.

Als Nadia herumwirbelte und sich der Rothaarigen zuwandte, hatte die einen angespannten Zug um die Augen. Aber der verschwand und machte einem Ausdruck völliger Fassungslosigkeit Platz, als sie das Schmuckstück sah. Und ihr entgingen die drei Anhängerchen in Herzform dabei keineswegs, wie ihre heftig zitternde Hand bewies, mit der sie genau dort das gesamte Stück berührte.
„Nadia“, keuchte sie mit erstickter Stimme. „Ich… verdiene das nicht!“
„Doch, Tanja“, erwiderte die Blondine. „Ihr beide verdient das. Und vielleicht sogar noch mehr…“

Hermann war bass erstaunt, die Rothaarige in Tränen ausbrechen zu sehen. In Strömen liefen sie ihr über die Wangen, auch wenn sie dem intensiven Blick ihrer Freundin nicht auswich.
Und sie wich auch nicht zurück, als die Blondie zu ihr trat und sie ganz langsam in die Arme schloss. Nicht einmal, als ein Kuss seinen Anfang nahm, der zwar nicht leidenschaftlich, aber doch immens gefühlvoll wirkte.

„Ich werde niemals vergessen, was du getan hast“, wisperte Nadia. „Nicht das Schlechte, aber auch nicht das Gute. Ohne dich gäbe es die Liebe meines Lebens nicht mehr und es war nicht deine Schuld, dass er in diese Situation geraten ist. Egal, wie du das siehst.
Also hast du damit deine Schuld abgetragen. So wie Peter dir schon verziehen hatte, als es passierte, habe ich dir längst vergeben. Und nun will ich dich und Kenny glücklich sehen. Weil ich… weil wir alle drei euch liebhaben.“

Hermann musste selbst schlucken, obwohl er gar nicht genau wusste, wovon die Rede war. Er verstand die Gefühle, die im Raum standen. Das genügte.
Höflich wandte er sich ab und zwinkerte seine Tränen beiseite, als die Rothaarige für einige Minuten zusammenbrach und haltlos in den Armen ihrer Freundinnen weinte. Diese seltsame und tief bewegende Versöhnung wollte er weder unterbrechen, noch stören.

Vielleicht würde er seiner Ruth davon erzählen. Auch wenn er angesichts der Rolle, die knackige Mädchenbrüste in der Sache spielten, eigentlich eher davon abgesehen hätte. Aber seit einiger Zeit war seine Süße irgendwie weicher geworden, nachdem er schon dachte, ihr Job als Krankenschwester würde sie langsam auffressen.
Diese romantische Geschichte würde sie sicherlich rühren. Und ganz offen gestanden war sie ihm ein wenig lieber, wenn sie schniefend vor Rührung in seinen Armen lag, als wenn sie ihn mit ihrem Kasernenhofton herumkommandierte.
Nicht, dass er seinen kleinen Drachen nicht geliebt hätte, aber wenn sie in so einer Stimmung war, konnte er es ihr einfach besser zeigen.


XXXVIII. - Epilog vom Epilog

Mehr über die Verwicklungen und ihre Beteiligten sollte Hermann an diesem Tag nicht erfahren. Er war nur zufälliger Zeuge eines kleinen Epilogs eines Kapitels einer Geschichte, die am Fuß einer Burgruine ihren Anfang genommen hatte.
Er wusste nichts von den Gestalten, die keine fünf Kilometer entfernt in einer Justizvollzugsanstalt in Untersuchungshaft saßen und auf ihren Prozess wegen versuchten Mordes, schwerer Körperverletzung, unerlaubtem Waffenbesitz, Bildung einer kriminellen Vereinigung und diverser Anstiftungen und anderer Anklagepunkte warteten.
Er wusste auch nichts von den fast schon dramatischen Ereignissen, die an einer Bauruine im Wald eines nahegelegenen Dorfes stattgefunden hatten und zum Tode von einem führten, dem nicht einmal Hildegard alias Candy ernsthaft nachtrauern mochte.
Und Hermann ahnte auch kaum, wie weit seine ansatzweisen Fantasiebilder dessen, was diese jungen Leute mit ihren Partnern - und Partnerinnen - so erleben mochten, hinter der Realität zurückblieben. Oder dass seine Frau am kommenden Abend an seinen Lippen hängen würde, sobald sie die Namen Kenny und Tanja vernahm, um dann nach einem wirklich, wirklich romantischen Abend im Bett Dinge mit ihm anzustellen, die sie seit Jahren nicht mehr gemacht hatte.

Hermann hatte keine Ahnung davon, wie die Leben mancher Leute sich veränderten, die auch nur ganz kurz mit Nadia und Peter in Berührung kamen. Wie Walther und Elfriede ihren zweiten Frühling erlebten oder die Hände einiger anderer Paare in einem ganz bestimmten Dorf beim Spaziergang nun wieder ein wenig öfter zusammenfanden. Aber immerhin bekam er davon eine Kelle voll ab, die er in vollen Zügen mit seiner Frau genoss.
Und deswegen hätte es Hermann wohl auch nicht behagt, wie etwa in der Stunde, als er die drei jungen Frauen in seinem Laden hatte, ein Mann, den seine ‚Kollegen‘ den Bulgaren nannten, vom Tod des Arschlochs erfuhr, das ihm Frischfleisch der ganz besonderen Sorte versprochen hatte.
Nein. Der Wutausbruch dieses berüchtigten Cholerikers hätte ihm nicht zugesagt und er hätte wohl gebangt, ob der unberechenbare Typ seinen Entschluss, dieser Scheiße auf den Grund zu gehen, wohl wahrmachte oder wieder vergaß - was beides in etwa gleich wahrscheinlich war.

Hermann war nur ein zufälliger Gast in dieser Geschichte, in der seine Begegnung mit den drei Frauen ebenso eine Randnotiz darstellte, wie die Begegnung seiner Frau mit einigen Beteiligten.
Einer Geschichte, deren erstes Kapitel sich um zwei Menschen drehte, deren zweites Kapitel diesen Kreis auf fünf erweiterte und in deren drittes Kapitel sein Erlebnis gehörte.

Falls es denn jemanden geben würde, der dieses dritte Kapitel erzählte. Was nicht zuletzt davon abhing, ob denn jemand außer den Beteiligten sich für das dritte Kapitel interessieren mochte.
Ein Kapitel, das sich um drei Frauen, zwei Männer drehen würde. Und wahrscheinlich auch um weitere Leute, die womöglich Teil dieser seltsamen Fünfecks-Konstellation werden mochten. Und darum, wie sich dieses teilweise noch fragile Konstrukt entwickelte.
Und ziemlich wahrscheinlich um haufenweise langweiligen, immer wieder nur auf personalisierte Körperteile zentrierten, ausufernden und viel zu ausschweifend beschriebenen, den Fortgang der an sich fast schon mageren Rahmenhandlung dauernd verschleppenden und natürlich vor Superlativen und immer abartiger werdenden Schweinereien strotzenden Sex.

*****

Es bedanken sich Peter, Kenny und Patty für die Aufmerksamkeit, die ihnen entgegengebracht wurde.
Nadia lächelt dazu und tut, als hätte sie nichts anderes erwartet, aber man hat sie erröten sehen, wenn sie so einige Kommentare erblickte.
Renate hingegen ist so gerührt, dass sie keine Worte findet und nicht dabei beobachtet werden mag, wie sie sich in ihr Stofftaschentüchlein schnäuzt. Sie rechnete nämlich niemals damit, dass so viele Leute ihre oft doch recht burschikose und vielleicht manchmal auf griesgrämige Art allen Ernstes liebenswert finden würden.

Und Tanja… Tja, Tanja…
Man kann sich vielleicht vorstellen, dass sie vor Tränen und dickem Kloß im Hals keinen Ton herausbringt, denn sie verdankt ja einige energischen Kommentatoren im Grunde ihr Leben und die Chance, noch einmal von vorne anzufangen.
Und wenn sie nicht gerade mit sich selbst hadert und sich vorwirft, das nicht verdient zu haben, ist sie doch manchmal wirklich froh, aus der Umarmung des Todes einmal öfter aufgewacht zu sein, als es das Schicksal eigentlich für sie geplant hatte. Und sich dafür in den Armen desjenigen wiederzufinden, bei dem sie am wenigsten damit gerechnet hätte, sich dort so geborgen zu fühlen…

All die anderen Leute, die ihre Auftritte hatten, ziehen vorüber und verneigen sich. Zwei Brüder allerdings bleiben sitzen und zeigen die Mittelfinger, wenn sie nicht gerade mit dem Arsch an der Wand lang schleichen, weil irgendwer das Gerücht gestreut hat, sie wären Vergewaltiger und ihre Mithäftlinge ihnen helfen wollen, diesen Begriff in aller Vollständigkeit zu verstehen.

Ein Hund bellt - wahrscheinlich Fritz - und die Karawane zieht weiter…

*****

Mittwoch, 19. Februar 2014

Junge Liebe - Kapitel 2 - Teil 07

Junge Liebe
Kapitel 2
Eine Geschichte über die Jugend, die Liebe und erste Male.
© 2012-2014 Coyote/Kojote/Mike Stone

*****

Teil 01
Teil 02
Teil 03
Teil 04
Teil 05
Teil 06
Teil 07
Teil 08

*****

Auch diesmal geht mein Dank wieder an Theodor und die anderen Erstleser für ihr Feedback.

Es folgt in Kürze noch ein Epilog zum zweiten Kapitel.

***** 

XXXVI.

Tanja erwachte aus ihrem leichten Schlaf, als sie ein Geräusch hörte.
Sie schlief nicht mehr sehr ruhig, seitdem Peter dagewesen war. Aber sie hütete sich, das den Schwestern zu erzählen.
Es war ihr scheißegal, was die Ärzte davon hielten. Sie war nicht hysterisch, sondern einfach verzweifelt. Sie musste es ihm erklären. Sie musste sich entschuldigen. Sie musste… irgendwie alles wieder gut machen.

Aber statt sie wenigstens telefonieren zu lassen, drohte man ihr dauernd mit Beruhigungsmitteln und fesselte sie an ihr Bett. Keiner wollte ihr zuhören. Nicht einmal dieser Penner, der sich Psychologe nannte.
Stattdessen zwang man sie dazu, hier zu bleiben und ‚gesund‘ zu werden. Und wenn sie nicht aufpasste, würde sie wahrscheinlich in einer Geschlossenen landen.
Schließlich kannten die hier mittlerweile ihre Krankenakte…

Als sie aufschreckte, wusste sie für einen Moment nicht, was los war. Aber dann sah sie eine Bewegung in den Schatten bei der Tür. Und sofort machte ihr Herz einen Sprung.
„Peter?“, fragte sie mit mühsam unterdrückter Erregung in der Stimme. „Peter, bist du das?
Gott! Ich bin so froh, dass du da bist. Ich wollte… Ich muss…
Es… es tut mir leid, Peter. Ich… ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst. Ich will dir nur sagen, dass es mir unendlich leidtut. Alles! All die Dinge, die ich dir angetan habe. Alles, was ich zu dir gesagt habe. All die… Gemeinheiten.“

Nach Luft ringend hielt sie inne. Die Gestalt kam langsam näher, aber irgendetwas stimmte nicht. Es war schwer auszumachen, aber irgendwie…
„Peter? Sag doch etwas… Bitte!“, flehte sie und klammerte sich an die Hoffnung, die ihr als Einziges noch blieb.
Aber die Gestalt trat nur stumm an ihr Bett.

Hasste er sie so sehr, dass er nicht einmal mehr mit ihr reden wollte? Verdient hatte sie es. Ohne Zweifel. Aber… Wenn er nicht reden wollte, weswegen war er dann hier?
Sie sah, wie sich ein Schatten auf ihren Kopf zubewegte. Seine Hand vielleicht? Wollte er… sie berühren? Sie schlagen?
Nun… Wenn es das war, was er wollte, würde sie es ertragen. Sie hatte es verdient. Sie hatte jede Strafe verdient. Also streckte sie ihm das Gesicht entgegen und biss die Zähne zusammen.

„Jaja…“, murmelte eine unangenehm vertraute Stimme. „Wärst du mal nich so gemein gewesen, wär dir das erspart geblieben.“
„Laber nich“, grunzte eine andere Stimme aus dem Hintergrund. „Halt ihr die Fresse zu, du Depp!“

In dem Moment, in dem Tanja Rene erkannte, holte sie sofort Luft, um zu schreien. Aber es war zu spät.
Grob presste er seine Hand auf ihren Mund und ihre Nase. Raubte ihr die Luft zum Atmen. Und nahm ihr die Möglichkeit, um Hilfe zu rufen.
Und sie konnte sich nicht einmal dagegen wehren.

„Praktisch, dass sie ans Bett gebunden ist“, kommentierte Rene Pfaffer - Tanjas mit Abstand schlimmster Alptraum.
„Halts Maul und halt dich bereit. Wenn ich es sage, nimmst du die Hand weg und ich kleb ihr die Fresse zu.“

Die zweite Stimme war nähergekommen und nun gab es einen weiteren Schatten an Tanjas Bett. Sie war sich nicht sicher, aber es musste einer der anderen Pfafferbrüder sein. Nur… Was wollten die Wichser von ihr?
‚Nichts Gutes‘, wisperte eine innere Stimme ihr zu. ‚Sie kommen, um dir die Strafe zu verpassen, die du verdienst…‘
Der Gedanke traf sie wie ein elektrischer Schlag und ließ sie ihre Gegenwehr kurz einstellen. Was sich als Fehler erwies, denn mehr brauchten die beiden Gestalten nicht, um ihr den Mund mit Klebeband zuzukleben.

„Wie wir besprochen haben“, brummte der Zweite danach. „Einen Arm nach dem anderen und schön verschnüren. Wir brauchen kein Gezappel, wenn wir sie hier wegbringen.“
„Ja, ja“, murrte Rene. „Mach hinne. Ich hab Lust, meine ‚Freundschaft‘ mit ihr zu erneuern.“

Tanja riss die Augen weit auf und was noch gesagt wurde, wurde vom Rauschen des Blutes in ihren Ohren übertönt.
‚Nein!‘, schrie sie aus Leibeskräften, aber es wurde von ihrem Knebel erstickt. ‚Nicht wieder! Nicht noch einmal! Lieber sterbe ich!‘
Doch es interessierte keinen der beiden Brüder, was sie davon hielt. Sie setzen ihre überlegene Kraft ein und befreiten sie von ihren Fesseln, nur um sie Stück für Stück zu einem handlichen Paket zu verschnüren.

Niemand hörte ihre stummen Schreie. Niemand, außer ihr selbst.

*****

Haus, Hof und Garten der Familie Bübler lagen ebenso friedlich und still da, wie der Rest des Dorfes. Es war mitten in der Nacht und nicht einmal auf der vielbefahrenen Hauptstraße herrschte Verkehr.
Es gab praktisch keine Geräusche. Nicht einmal rollige Katzen, die irgendwo nach einem Kater suchten. Nichts.
Und trotzdem lag Peter wach. Irgendetwas hatte ihn aufgeschreckt. Und nun konnte er nicht mehr einschlafen. Er hatte ein sehr, sehr unangenehmes Gefühl in der Magengegend. Aber nicht von der körperlichen Sorte.

Zu lange versuchte er, sich nicht zu rühren, um die beiden Frauen nicht zu stören, die ihn mit ihren Körpern fast bedeckten. Sie schliefen tief und fest und friedlich. Und das war auch kein Wunder nach dem, was sie einander angetan hatten.
Fast hätte er bei der Erinnerung an die Show, die sie ihm geboten hatten, gelächelt. Selbst von ihrem leidenschaftlichen Spiel ausgeschlossen war er doch Teil davon gewesen. Und dafür war er dankbar.
Sie hatten sich ihren Schlaf verdient. Und er sollte auch versuchen, Ruhe zu finden. Aber es wollte einfach nicht klappen.

Irgendwann gab er auf. Vorsichtig löste er sich aus der doppelten Umarmung und murmelte entschuldigend, dass er gleich wieder da sei. Glücklicherweise rührten sie sich zwar beide ein wenig, ließen sich aber von seinen Worten wieder besänftigen und schliefen weiter.
Sicherheitshalber ging er daraufhin zur Toilette. Aber wie erwartet war die Nervosität in seiner Magengrube nicht körperlich.

Seufzend schlich er sich wieder ins Schlafzimmer und sammelte schnell seine Hose, Socken und Schuhe auf. Und eine Unterhose aus dem Schrank, weil er sich gerade nicht nach Nacktheit unter der Hose fühlte.
Er zog sich allerdings erst in der Küche an, um auch wirklich unbemerkt zu bleiben. Und dann setzte er sich an den Tisch und versuchte, die Gründe für das Unwohlsein zu ergründen. Aber es war völlig hoffnungslos.

In Ermangelung anderer Einfälle beschloss er schließlich, sich draußen ein wenig die Beine zu vertreten. Und genau deswegen trat er zufällig gerade aus der Tür, als eine verhüllte Gestalt am Tor sich streckte und eine Wurfbewegung ausführte.
Zuerst verstand der junge Mann nicht, was er da eigentlich sah. Aber dann klirrte es laut, als ein Stein oder etwas in der Art die Fensterscheibe zu seiner Küche zerschmetterte. Die Gestalt gab daraufhin sofort Fersengeld.

Kurz war Peter wie erstarrt. Die Idee, dem Arschloch nachzulaufen, verwarf er sofort wieder. Zu viel Vorsprung. Aber was sollte der Scheiß? Diese Art von Vandalismus passte so gar nicht in dieses Dorf. Das kam hier einfach nicht vor.
Angespannt ging er wieder hinein und hörte Nadia nach ihm rufen.
„Alles in Ordnung!“, antwortete er laut. „Ein… Stein…?“

Seine Worte wurden leiser, als er auf den halben Backstein sah, der durch das Fenster geflogen war. Der Stein selbst war nicht wirklich aufsehenerregend. Der Zettel, den man darum gewickelt hatte, schon.
Stirnrunzelnd und innerlich immer unruhiger hob er die Nachricht auf, löste die Schnur, mit der sie befestigt war und versuchte, die krakelige Schrift zu entziffern. Aber erst, als er das Licht einschaltete, konnte er einen Sinn in den Worten entdecken.
Dann lief es ihm allerdings eiskalt den Rücken hinunter.
Nein!“

*****

Nadia rieb sich den Schlaf aus den Augen und erwiderte Pattys fragenden Blick mit einem Achselzucken.
Sie war aus dem schönsten Traum gerissen worden, als es laut schepperte und klirrte. Aber das war okay, denn sie kehrte in ihre traumhafte Realität zurück.
Nur leider war der Mittelpunkt ihres Universums nicht im Bett…

„Peter?“, hatte sie gerufen. Und als er nicht antwortete noch einmal lauter: „Peter?“
„Alles in Ordnung!“, war die Antwort aus Richtung der Küche gekommen. „Ein…“, setzte er an und dann wurde er zu leise, um ihn zu verstehen.
Zunächst beruhigt war sie zurückgesunken. Was auch immer es gewesen war, es schien unter Kontrolle. Also musste sie nicht sofort losrennen, um nachzusehen.
„Katzen vielleicht?“, fragte Patty.
„Keine Ahnung, aber wenn, dann…“, murmelte die Blondine.

Nein!“, brüllte da plötzlich Peter in der Küche.
Keine Sekunde später war Nadia auf den Beinen. Sie hatte ihren Geliebten schon in so einigen Stimmlagen gehört. Aber diese war neu. Und zutiefst erschütternd.
Es war ein Schrei der ohnmächtigen Wut gewesen. Und er wurde gefolgt vom Geräusch sich schnell entfernender Schritte.

Mit Patty unmittelbar auf den Fersen flitzte Nadia in die Küche. Aber Peter war nicht da.
„Peter?“, rief sie ängstlich. „Baby?“
Dann hörte sie ein lautes Quietschen von draußen und Augenblicke später Peters Wagen, wie er ansprang und dann mit viel zu hoher Geschwindigkeit von Hof schoss.
„Peter!“, keuchte sie entsetzt.

„Nadia!“, kreischte da plötzlich Patty hinter ihr voller Angst.
Alarmiert fuhr sie herum und sah ihre Freundin einen Zettel in der zitternden Hand halten. Rasch trat sie näher und versuchte, die Sauklaue zu entziffern. Und dann, sich einen Reim auf die Worte zu machen.

Haben dein Kussine Büpler!!!
Kom zur Bauruine in Walt!!!
Patze Schlambe weis wo!!!
Pring Blondie mit!!!
15 Minuden sons stirpt die Schlambe!!!
KEINE BULLEN sons lass mer dir n Arm da!!!

„Was…? Was…?“, keuchte Nadia schockiert.
„Meine Brüder“, wimmerte Patty.
„Die Waschlappen?“, staunte die Blondine.
„Das ist Pierres Handschrift! Und der steckt in richtig üblen Sachen mit drin, Nadia. Mit richtig üblen Leuten!“

Nadia fühlte, wie ihr Herz einen Augenblick lang zu schlagen aufhörte.
Der Ausdruck in Pattys Augen war blanke Angst. Und sie kannte ihren Bruder am besten. Wenn er wirklich mehr als ein Maulheld war…
Panik kroch ihr in die Kehle. Aber sie knallte die Faust auf den Tisch und ließ den Schmerz die Angst zurückdrängen.

„Ruf die Polizei!“, forderte sie Patty auf und wandte sich ab.
„Aber…“
„Tu es, Patty. Und sag ihnen, wo sie hin müssen.“
„Und du?“, fragte Patty, während sie hinter Nadia hereilte, um zum Telefon im Wohnzimmer zu gelangen.
„Ich hole Kenny oder irgendwen, der ein Auto hat. Und du sagst mir, wo ich hin muss.“

Damit war sie aus dem Raum und im Schlafzimmer. Ihr erster Impuls war, das Nächstbeste anzuziehen, aber sie besann sich und suchte sich schnell eine Shorts und ein Shirt. Und dazu ihre Turnschuhe.
Schnell schlüpfte sie in die Kleidung und war beinahe fertig, als sie einen erstickten Schrei und dann Gerangel und eiliges Getrappel aus dem angrenzenden Raum hörte.
„Halt still!“, zischte eine sich entfernende Männerstimme.

Noch ohne Schuhe und mit bis in den Hals schlagendem Herzen sprang sie zur Durchgangstür und hindurch. Fast hätte sie nach Patty gerufen, aber sie hielt sich zurück. Und sie rannte auch nicht weiter, sondern versuchte, sich leise zu bewegen. Wenn es Probleme gab - und es sah verdammt danach aus - half sie niemandem, wenn sie kopfüber hineinstürzte.
Vorsichtig schlich sie durch die Küche zur Eingangstür und lugte hinaus. Und dort sah sie zwei Männer, die eine sich windende Patty mit sich zerrten. Offenbar hielten sie ihr den Mund zu und ebenso offenbar war zumindest einer von ihnen ein völlig Fremder, während der andere der untersetzte Andre zu sein schien.
Fuck!!

Zielstrebig liefen die beiden über den Hof und auf die Straße. Sie wussten, wo sie hinwollten und die Chancen standen gut, dass auch Peter dorthin auf dem Weg war. So schwer es ihr fiel, ihre Freundin im Stich zu lassen - sie eilte zurück ins Schlafzimmer und streifte sich ihre Schuhe über. Und dann hielt sie nur noch einmal in der Küche inne, um sich ein Messer aus der Schublade zu nehmen.
Danach lugte sie noch einmal hinaus und sah gerade noch, wie ein Wagen aus einer Seitengasse kam und sich mit einem Affenzahn aus dem Staub machte.
Schlecht. Aber auch gut, denn damit hatte sie freie Bahn. Und zwar hinüber zu Kennys Haus.

*****

Kenny schreckte hoch, als jemand seinen Namen rief und gleichzeitig sturmgeklingelt wurde.
Das war hoffentlich reichlich wichtig, sonst würde er…
Moment… War das nicht Nadias Stimme? Und klang sie völlig außer sich?

Schnell rollte er sich aus dem Bett und eilte zur Vordertür, noch während seine Mutter von oben nachfragte, was zur Hölle denn los sei.
„Gleich, Mom!“, schnauzte er und riss die Tür auf.
Tatsächlich stand eine atemlose und sehr aufgeregt wirkende Nadia davor.

„Sie haben Tanja und Patty. Und Peter ist auf dem Weg zu ihnen. Sie meint, vielleicht ist ihr Bruder Pierre dabei. Und der soll gefährlich sein. Brauche ein Auto, Kenny. Bitte!“
„Wohin?“, fragte er sofort, während ihm heiß und kalt wurde.
„Bauruine? Wald?“
„Kenne ich. Eine Minute!“
„Kenny…“, setzte sie an.
„Eine - Minute“, sagte er energisch.
Daraufhin nickte sie.

„Mom!“, brüllte er, während er sich umdrehte. „Ruf die Bullen und sag ihnen, sie sollen zur alten Bauruine im Wald über dem Dorf kommen. Da, wo die Villa gebaut werden sollte.
Und sag ihnen, es geht um Leben und Tod!“
„Kenneth?“, rief seine Mutter verwirrt von oben, während er in seinem Zimmer in seine Klamotten sprang.
„Bauruine der Villa im Wald, Mom! Leben und Tod! Kein Scheiß!“, schnauzte er ungeduldig. „Pierre Pfaffer! Sag ihnen den Namen, Mom. Pierre Pfaffer!“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, schnappte er sich ihren Autoschlüssel vom Schlüsselbrett und flitzte an Nadia vorbei zu dem kleinen Renault. Die Blondine war unmittelbar hinter ihm. Das musste er nicht erst überprüfen.
Sekunden später trat er das Gaspedal durch und raste los. Und erst dann gestattete er sich, über sein weiteres Vorgehen nachzudenken.

„Was ist passiert? In Kurzfassung“, keuchte er.
„Geklirr, aufgewacht, Peter schreit, rennt raus, fährt los. Stein, Brief. Haben Tanja und drohen. Umbringen oder verstümmeln. Keine Bullen“, ratterte sie atemlos hinunter. „Anziehen, Patty Bullen rufen. Gerangel, zwei Typen holen Patty, einer Andre, glaub ich. Zu viel für mich. Versteckt. Angezogen, losgerannt.“
Als vielleicht einer von unter einer Million Menschen war Kenny durch diese Aufzählung perfekt im Bilde. Er hasste es manchmal, wie langsam Leute Dinge erklärten. Vor allem, wenn er unter Storm stand. Aber mit dieser Art der Schilderung konnte er was anfangen.
„Du bist okay?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
„Verletzt?“
„Scheiß Angst!“

Das machte Sinn. Angst war etwas, was er auch noch haben würde, bevor diese Geschichte vorbei war. Aber jetzt gerade ritt er die erste Welle Adrenalin und fühlte sich trotz der Umstände ziemlich gut.
Nur einen Plan hatte er noch nicht. Aber wenigstens waren sie unterwegs. Und sie konnten Zeit für die Bullen schinden, die hoffentlich den Notruf ernst nehmen würden. Der Name Pierre Pfaffer war ihnen jedenfalls bekannt. Selbst nach all den Jahren, die der Mistkerl im Knast und sonst wo in der Weltgeschichte verbracht hatte.
Hoffentlich…

Erst dann sickerte eine bestimmte Information so richtig zu ihm durch: Tanja! Sie hatten Tanja!
Als wäre das, was einer der Wichser ihr angetan hatte, nicht schon genug gewesen. Als hätte sie nicht schon genug durchgemacht. Jetzt wurde sie auch noch als Geisel benutzt.
Aber diesmal nicht! Seine Zähne knirschten, als er sie fest zusammenbiss.
Diesmal nicht!

*****

Renates Herz schlug viel zu schnell, aber für ihre Tabletten war keine Zeit. Geklirr hatte sie hochgeschreckt und zuerst war sie verwirrt gewesen. Es war mitten in der Nacht und es war auch nichts weiter zu hören gewesen. Trotzdem mochte sie den Gedanken nicht, dass vielleicht irgendetwas zu Bruch gegangen war.
Langsam quälte sie sich aus dem Bett. Nie zeigte sich die Last der Jahre so überdeutlich, wie beim Aufstehen. Aber ihr Wille war noch immer stärker.

Es hatte sie sehr irritiert, dass ein Wagen mit quietschenden Reifen vom Hof geschossen war. Peter?
Ein Blick aus dem Fenster hatte natürlich nichts offenbart. Bis auf die zwei Gestalten, die sich geduckt auf den Hof schlichen.
Gütiger Gott!

Renate überlegte nicht, ob sie zum Telefon oder zum Schrank gehen sollte. Die nächste Polizeiwache war mehr als fünfzehn Kilometer entfernt und das Dorf war sehr, sehr ruhig. Also war die nächste Streife womöglich noch weiter weg.
Sie musste sich selbst zur Wehr setzen. Und sie musste schauen, ob die Kinder Hilfe brauchten. Vielleicht war Peters Wagen gestohlen worden. Und vielleicht wollten die Gauner noch mehr klauen.

Rasch streifte sie den Morgenmantel über und holte die Geldkassette aus ihrem Versteck. Einmal hatte sie dieses Geschenk von Rudolf zu gut versteckt. Und dann hatte sie es nicht zur Hand gehabt, als der Russe kam, um ihr Familie, Heim und Unschuld zu nehmen.
Seitdem war es immer in der Nähe und sie pflegte es jede Woche, wie ihr schneidiger Obergefreiter es ihr bei seinem letzten Fronturlaub beigebracht hatte. Und so war es wohl besser in Schuss, als sie selbst.
Sorgfältig nahm sie eines der Magazine und führte es ein. So vertraut war ihr diese Bewegung, dass sie nicht einmal dabei zitterte, obwohl sie sehr aufgeregt war. Und auch das Spannen des Kniegelenks funktionierte genau so, wie es sollte.

„Sie soll dein Beschützer sein, wenn ich an der Front bin“, hatte er ihr erklärt. „Man kann nie wissen, ob nicht einmal Räuber kommen, weil sie denken, alle guten Männer stehen an der Front und sie können leichte Beute machen. Besonders so wertvolle Beute, wie meine kleine Renate!“
Dann hatte er sie hochgehoben und an sich gedrückt. Und sie hatte sich an ihm festgehalten, als hinge ihr Leben davon ab. Weil sie damals glaubte, dass er sie heiraten würde. Er hatte es versprochen. Und wenn der Krieg vorbei war - sie sagten ja immer, dass es nicht mehr so lange dauern konnte, bis zum Endsieg - wäre sie auch alt genug und der Vater würde es erlauben.
Und wenn er es nicht erlaubte, dann würde sie den Rudolf halt küssen und schwanger werden und dann musste er es gestatten. Ach was war sie mit vierzehn doch noch unschuldig gewesen…

Viel größer als damals war heute ihre Hand. Und auch wenn die Kräfte nachließen, war sie kein schwaches Kind mehr. Also würde sie schon mit dem Bocken der Pistole zurechtkommen, wenn es sein musste. Wie sie sich hinstellen musste, wusste sie ja noch ganz genau.
Unbeirrt von den Erinnerungen, die über sie hereinbrachen, war sie langsam die Treppe hinunter gegangen und zur Verbindungstür geschlichen. An ihrer Haustür war alles in Ordnung, also mussten die Gauner nach den Kindern trachten.
Doch als sie leise die Tür zur Einliegerwohnung öffnete, war es wohl schon zu spät. Niemand war mehr da. Alles war in Unordnung. Und auf dem Tisch lag ein Zettel.

*****

Tanja zuckte zusammen, als sie die Schritte hörte.
Sie konnte noch nicht lange aus dem Krankenhaus weg sein. Vielleicht erst Stunden. Aber sie hatte schon gelernt, das Geräusch der Schritte auf dem groben Stein- oder Betonboden zu fürchten.
Beim ersten Mal war es Rene gewesen, der ohne zu zögern ihre Brüste und Schenkel betatscht hatte und ihr davon erzählte, was er alles mit ihr anstellen würde, wenn Peter erst einmal erledigt wäre.
Und Tanja hatte geweint, weil sie Angst vor dem hatte, was er ihr antun würde. Und vor dem, was er und seine Brüder vielleicht Peter antun mochten. Aber geholfen hatte ihr das nicht.

Geholfen hatte ihr irgendein Fremder. Oder vielleicht war es auch Pierre, der älteste der Pfaffer Brüder. Jedenfalls hatte er Rene angeschnauzt, die Finger von ihr zu lassen. Was sie fast schon mit Dankbarkeit erfüllt hatte. Bis er irgendwann wiederkam und ihr von seinen Plänen erzählte.
„Wenn du nicht tust, was ich sage“, hatte er ihr ins Ohr geraunt, „wird all das, was dir bevorsteht, sehr viel mehr wehtun.
Ich kann dich so schlagen, dass es keine Spuren hinterlässt. Und ich kann dich so ficken, dass es richtig wehtut. Und vor allem kann ich dafür sorgen, dass du von jemandem gekauft wirst, der eine kleine Schlampe zum Totquälen haben will.
Oder du bist artig und gehorchst. Dann tut das Ficken nicht so weh und es kauft dich jemand, der vielleicht sogar mal ein bisschen nett zu dir ist. Deine Entscheidung.“

Die Worte waren schlimmer gewesen als alles, was Renes Finger oder sein Pimmel ihr antun konnten.
Tanja schämte sich vor sich selbst, weil sie schon wieder selbstsüchtig war. Sie hasste sich dafür, aber sie hatte schreckliche Angst. Mehr als alles andere hatte sie Angst davor, zu Tode gequält zu werden. Vor den Schmerzen.
Sie nickte so ausholend, wie sie konnte, um ihm zu zeigen, dass sie artig sein wollte. Und gleich im nächsten Moment wollte sie sich am liebsten selbst umbringen, weil sie Peter damit verriet. Wieder!

Als nun die Schritte wiederkamen, befürchtete sie, es wäre soweit. Nun würde er ihr wehtun. Oder sie verkaufen. Oder was auch immer mit ihr tun.
Sie hatte Angst. So entsetzlich viel Angst, dass sie die Kontrolle über ihre Blase verlor. Was ihre Lage nur noch schrecklicher machte. Und sie anwiderte, weil sie so schwach war. So jämmerlich und wertlos.

„Zeit für deinen Auftritt, Puppe“, grunzte ein völlig Fremder. Dann schnüffelte er kurz. „Hast du dich eingepisst? Oder hat einer der Penner hier in die Ecke gestrullt?“
Ohne eine Antwort auf seine Frage zu erwarten, packte er einen Teil ihrer Fesseln und zerrte sie auf die Füße. Mit zusammengebundenen Beinen konnte sie kaum stehen, aber das schien ihn nicht zu interessieren.
„Ich schneide dir die Fesseln unten auf. Aber wenn du wegläufst, fängst du dir ne Kugel ein, klar?“, erklärte er. „Scheiße… Du hast dich wirklich eingepisst… Na das wird Pierre gefallen. Wenn er dir jetzt den Arsch wundfickt, hast du selbst schuld…“

Tanja konnte nur wimmern und trotz der zusätzlichen Bewegungsfreiheit ihrer Beine knickte sie ein. Aber der Fremde riss sie wieder hoch und zerrte sie mit sich.
Unter ihren Füßen fühlte sie lauter kleine und größere Steine, die ihr in die Sohlen stachen. Und die kalte Nachtluft, die ihr unter das Krankenhausleibchen fuhr, ließ sie frösteln. Aber das interessierte niemanden.
Sie war schließlich nur Abschaum. Wertlos…

„Nimm ihr die Kapuze ab“, wies Pierre den Fremden an. „Der Bubi soll sehen, dass sie es ist, wenn er ankommt.“
Rasch wurde der Sack, den man ihr über den Kopf gezogen hatte, entfernt. Und Tanja konnte einen Blick in die Runde werfen. Aber Erleichterung brachte ihr das keine.

Sie befand sich vor einer Bauruine im Wald. Vielleicht die alte Villa, die nie ganz fertiggestellt worden war. Abgelegen und kaum noch jemandem bekannt. Das würde passen.
Zu ihrer Rechten stand Rene und starrte sie anzüglich grinsend an. Ihr verrutschter Kittel schützte sie praktisch nicht mehr vor seinen Augen. Und sie konnte nichts dagegen tun.
Auf der anderen Seite stand der hochgewachsene Pierre und etwas weiter entfernt sein Bruder Andre. Ersterer starrte in die Ferne und Letzterer betrachtete sie ähnlich interessiert, wie es Rene tat.
Wo der Fremde steckte, konnte sie nicht sagen. Aber vermutlich war er hinter ihr.

„Es ist kein Streifenwagen“, verkündete Pierre nun. „Sieht schon aus wie die Karre von dem Bubi.“
Erst jetzt bemerkte Tanja, dass er ein Fernglas vor den Augen hatte.
„Sieht so aus, als könntest du deinen Arm behalten, Schlampe.“

Aber Tanja hörte ihn kaum noch. Sie starrte auf die näherkommenden Lichter und kämpfte mit den Tränen.
Sie wollte ihm zurufen, nicht hierher zu kommen. Sie ahnte, dass ihm weit mehr als eine Tracht Prügel drohte. Aber ihr Herz machte Luftsprünge, denn Peter kam. Wegen ihr! Um sie zu retten!
Er… ließ sie nicht im Stich, so wie sie ihn im Stich gelassen hatte.
Oh… warum ließ er sie nicht im Stich?
Er sollte doch bei Nadia sein und nicht hier.

Jähes Entsetzen rang mit der Freude in ihrer Brust, als ihr Blick auf die Pistole fiel, die Pierre in seinem Gürtel stecken hatte.
Er durfte nicht kommen! Sie… sie würden ihn… töten!

*****

Peter war unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, während er durch die Nacht raste.
Tanja war in Gefahr. Es stand außer Frage, dass er ihr helfen musste. Und es stand ebenfalls außer Frage, Nadia in Gefahr zu bringen. Also war er allein.
Das war nicht vernünftig, aber es war die einzige Option.

‚Fünfzehn Minuten‘, hatte auf dem Zettel gestanden. Nicht genug Zeit für die Polizei. Also kam das nicht in Betracht. Aber hoffentlich ignorierten die beiden Frauen die Drohung und verständigten sie trotzdem.
Eine leere Drohung war es möglicherweise. Aber vielleicht auch nicht. Wenn Pierre Pfaffer mit von der Partie war, war so ziemlich alles möglich. Der Typ war ein irrer Schläger.
So oder so konnte Peter das Risiko nicht eingehen.

Er lenkte seinen Wagen durch den Wald. Er kannte sein Ziel und musste nicht suchen. Dafür hätte er auch keine Zeit gehabt.
Als der große Rohbau in Sicht kam, der einmal eine Villa hatte werden sollen und der jetzt schon wieder langsam im Wald verschwand, atmete er auf. Im Licht seiner Scheinwerfer sah er die gesamte Pfaffer-Bruderschaft. Und er sah Tanja.
Aber als Nächstes wurde er wütend, denn seine Cousine stand zitternd in einem völlig verschobenen Krankenhauskittel da und war mit reichlich Klebeband am ganzen Oberkörper umwickelt. Sogar auf die Entfernung konnte er die Angst in ihrem Gesicht ganz klar erkennen.

Rasch stieg er aus und stapfte los, ohne auch nur den Motor abzustellen. Irrer Schläger oder nicht - Pierre Pfaffer war fällig für die Tracht Prügel seines Lebens. Und seine Brüder waren danach dran.
Ohne das geringste Zögern steuerte er mit geballten Fäusten auf den Wichser zu, der Tanja mit einer Hand an seiner Seite hielt. Die schüttelte wild den Kopf und wimmerte, aber Peter beachtete sie nicht. Noch nicht. Zuerst musste er…

„Das reicht, Bubi“, knurrte Pfaffer.
Und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, holte er eine schwarze Pistole hinter seinem Rücken hervor und richtete sie auf Peter.
Der hielt kurz inne. Aber dann spannte er sich auch schon an, um vorwärts zu springen. Koste es, was es wolle. Der Gnade der Pfaffers konnte er sich jedenfalls kaum ausliefern. Dann waren Tanja und er am Arsch.

Dummerweise war Pierre kein so großer Idiot wie seine Brüder. Er erkannte, was vor sich ging. Und er schaltete Peter auf die einzig mögliche Weise aus.
„Denk nicht, ich würd bluffen“, schnauzte er, während er Tanja die Pistole in die Seite drückte.
Peter blieb stehen und zwang sich dazu, sich zu entspannen.
„Du hast mich. Lass sie gehen“, forderte er mühsam beherrscht.
„So läuft das nicht“, erklärte Pierre höhnisch. „Los ihr Pappnasen. Er gehört euch. Macht ihn fertig.“

Peter starrte sein Gegenüber hasserfüllt an, während sich Andre und Rene zögerlich in Bewegung setzten. Und dann sah er Tanja an, die gegen ihren Knebel anschrie und versuchte, sich loszureißen, während ihr die Tränen über die Wangen strömten.
„Nicht deine Schuld, Kleines“, sagte er, mühsam um Sanftheit in der Stimme bemüht.
Als Rene neben ihm ausholte, um ihn ins Gesicht zu schlagen, tat er… nichts.

*****

Patty wehrte sich nach Kräften gegen die beiden Fremden. Sie wusste nicht, was los war. Aber sie wusste, dass sie das nicht wollte. Nur war schon einer von ihnen mehr als stark genug, um mit ihr fertig zu werden.
Man schleppte sie über die Straße zu einem Auto und sie hoffte kurz, Nadia würde kommen, um ihr zu helfen. Und dann hoffte sie, Nadia würde genau das nicht tun, sondern die Polizei rufen. Denn sonst hätten die beiden Typen gleich zwei Gefangene.

Es war nicht schwer, sich auszurechnen, dass sie Penner zu Pierre gehörten. Sie trugen Lederwesten, rochen nach Alkohol und waren grob an der Grenze zur Gewalttätigkeit. Das passte.
Demnach würde man sie wahrscheinlich dorthin bringen, wo sie ohnehin hinwollte. Nur nicht ganz in der Weise, wie sie dorthin wollte. Frustriert zwang sie sich dazu, ihre Gegenwehr einzustellen und ließ sich von einem der beiden Typen auf die Rückbank des Wagens ziehen.
Wenn sie doch nur wie Nadia wäre und sich einen Plan ausdenken könnte…

„Fessel die Schlampe“, forderte derjenige der Typen, der sich ans Steuer setzte.
„Jaja… Gleich…“, meinte der andere. „Nur kurz mal auf Tuchfühlung gehen…“

Pattys erster Impuls war, sich sofort aufzubäumen und zu kämpfen. Aber sie riss sich zusammen, als ihr etwas einfiel: ‚Wenn Männer Geilheit sehen, fängt ihre Hose an, für sie zu denken.‘
Also versuchte sie, sich soweit es ging zu entspannen. Und als der Dreckskerl ihr an die Brust griff, stöhnte sie verhalten und presste ihren Oberkörper ein wenig der Hand entgegen.

Es dauerte ein paar Minuten, bis der Dummkopf die Signale verstand, die ihm gegenüber wahrscheinlich noch keine Frau jemals ausgesandt hatte. Patty befürchtete schon, zu sehr zu übertreiben, als er endlich stutzte.
„Ich glaub, die Schlampe ist geil“, meinte er.
„Klar. Ganz bestimmt“, höhnte sein Kumpan.
„Alter… Die reibt sich an mir. Ich sags dir!“
„Genau… Bist du geil, Kleine. Stehst du auf harte Kerle wie uns?“
Er sah dabei in den Rückspiegel und sagte es sarkastisch. Aber er stutzte verblüfft, als sie langsam und deutlich nickte.
„Nimm mal die Flosse von ihrer Futterluke, Daniel“, schnauzte er.

„Ja“, sagte Patty so leise und verführerisch wie möglich. „Ich steh auf harte Kerle. Richtige Kerle. Nicht solche Waschlappen wie Rene und Andre…“
„Kann ich verstehen“, gackerte der, der ihr weiterhin die Brüste betatschte.
„Ein Jammer, dass wir keine Zeit haben, Süße“, sagte der Fahrer und schenkte ihr ein Grinsen, bei dem ihr fast schlecht wurde, weil er wohl keinen einzigen gesunden Zahn mehr im Mund hatte. „Aber später können wir uns bestimmt amüsieren.“

Einerseits war Patty sehr froh darüber, dass sie sich nicht jetzt ‚amüsieren‘ musste. Aber andererseits verfluchte sie ihre Unfähigkeit. Nadia hätte das ganz sicher besser hinbekommen.
Allerdings musste sie sich eingestehen, dass der Typ, auf dessen Schoß sie hing, ihr nicht einmal mehr die Hände festhielt. Offenbar wurde sie nicht als Bedrohung betrachtet. Und das… war doch etwas, oder? Damit ließ sich doch etwas anfangen…
Nur was? Was?

*****

„Walther! Wach auf, Walther! Du musst aufstehen!“

Walther brummte nur und fluchte im Geiste. Erst klingelte mitten in der Nacht das Telefon ohne Pause. Was allein schon eine Frechheit war. Wer rief den bitteschön zu nachtschlafender Zeit bei ihnen an? Das konnten ja nur jugendliche Witzbolde sein. Mistpack!
Aber zum Glück war Elfriede dran gegangen und er hatte sich wieder entspannt und versucht, seinen schönen Traum wieder aufzunehmen. Den, in dem diese beiden jungen Dinger eine gewisse Hauptrolle spielten, die der junge Bübler bei sich gehabt hatte, als Walther mit Fritz Gassi gegangen war.
Aber Elfriede war eisern. Wahrscheinlich spürte sie instinktiv, dass er nicht von ihr träumte. Und gönnte ihm das Vergnügen nicht.

„Walther Müller!“, keifte sie. „Steh sofort auf und hol dein Gewehr!“
Was war nur aus der süßen Brünetten geworden, die er damals geheiratet hatte? Die mit der Engelsstimme, die ihn immer so bewundernd anstarrte, wenn er einen kapitalen Bock mit nach Hause brachte. Und die… sich nicht zu schade gewesen war, auch mal eine dieser modernen Stellungen im Bett auszuprobieren…
Ach ja. Sie war zusammen mit ihm gealtert, ertrug Nacht für Nacht sein Schnarchen, küsste ihn noch immer, ohne zu zögern, und lüftete gerne auch noch ein oder drei Mal in der Woche ihr Nachthemd für ihn. Auch wenn sie keine zwanzig mehr war, konnte er sich verflucht noch eins nicht wirklich beschweren…
Moment! Gewehr?

„Was’nlos?“, nuschelte er benommen und versuchte, seinen Halbschlaf abzuschütteln.
„Renate hat angerufen. Jemand hat ihre Enkelin entführt und der Peter ist hinterher. Sie glaubt, die Scheißkerle sind bei der ollen Ruine im Wald und sie fürchtet, die wollen der Tanja was tun.“
Was?“, grunzte er.
Das war ein wenig viel so kurz nach dem Aufwachen. Aber dann fiel ihm siedend heiß etwas ein.
„Ja hol mich doch der Teufel!“, schnauzte er. „Ich wusste doch gleich, dass diese Gestalten nichts Gutes im Schilde führen.“

Erst am Mittag hatte er seine Runde durch den Wald gemacht. Schließlich war er für den Wildbestand verantwortlich. Und dabei hatte er eine Gruppe Jugendlicher mit Motorrädern und Autos beobachtet, die sich an der Bauruine herumgetrieben hatten.
Das missfiel ihm, aber solange sie kein Feuer legten oder etwas in der Art, musste er es schlucken. Auch wenn er die Pfaffer-Burschen mit dem Fernglas erkannt hatte. Und die waren wirklich besonders zwielichtige Gestalten. Säufer und Raufbolde allesamt.
Jetzt hatten sie offenbar völlig den Verstand verloren…

So rasch er konnte, schwang er die Beine aus dem Bett und rieb sich den letzten Rest Schlaf aus den Augen.
„Du musst für mich in den Keller gehen, Liebes“, sagte er betont ruhig. „Der Schlüssel für den Panzerschrank liegt…“
„Ich weiß, Schatz“, sagte sie sanft. „Denkst du wirklich, dass es so schlimm ist?“
„Ich habe heute die Pfaffers im Wald gesehen. Und reichlich Jungvolk dabei. Wenn die daran beteiligt sind, reicht meine Flinte vielleicht nicht.“
„Aber es sind doch nur dumme Kinder“, widersprach Elfriede leise und hoffnungsvoll.
„Wenn der Mistkerl Pierre nicht dabei wäre, hättest du vielleicht recht.“

Seine Frau kniff die Augen zusammen. Wie alle Leute im Dorf kannte sie die Geschichte von Pierre Pfaffer ganz genau. Auch wenn ihm niemals nachgewiesen werden konnte, dass er seiner Mutter absichtlich fast den Schädel eingeschlagen hatte, wusste man im Dorf doch Bescheid. Und niemand zweifelte an seiner Schuld.
Ihm war in klaren Worten gesagt worden, dass er nicht mehr zurückkehren sollte, wenn er seine Zeit für die ‚fahrlässige Körperverletzung‘ abgesessen hatte. Dass er nicht mehr willkommen war.
Wenn er so vermessen war das zu ignorieren, konnte das nichts Gutes bedeuten.

„Vielleicht rufst du besser Klaus und Franz an und sagst ihnen, was vor sich geht“, sagte er nachdenklich. „Lieber scheuche ich sie umsonst aus dem Bett, als dass ich zulasse, dass in diesem Dorf am Ende noch etwas wirklich Schlimmes passiert.“
„Das mache ich“, sagte sie und schluckte. „Und dann ziehe ich mich an und begleite dich.“
„Nein, Elfriede!“, widersprach er sofort und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
„Streite nicht mit mir“, fauchte sie. „Ich komme mit. Basta!“

Fieberhaft überlegte er, wie er sie davon abbringen konnte. Und zum Glück fiel ihm etwas ein.
„Du musst zu Renate, Liebes. Du weißt so gut wie ich, dass sie nicht stillsitzen wird. Sie wird eine Dummheit tun. Und du musst sie aufhalten.“
Mit einem Blick zu ihr erkannte Walther, dass er einen Volltreffer gelandet hatte. Sie kaute auf ihrer Lippe und dachte nach. Und ganz am Rande registrierte er, dass sie ihn genau mit dieser Miene damals um den Finger gewickelt hatte. Deutlich konnte er gerade ihr junges, bildschönes Selbst vor sich sehen.
„Wir haben keine Zeit für Streitereien. Ich fahre in den Wald und du zu Renate. Und meine Flinte nimmst du mit. Falls du sie nicht abhalten kannst, will ich dich bewaffnet wissen.“

Die Zugeständnisse schienen ihr zu reichen. Sie gab sich geschlagen und gemeinsam schlüpften sie rasch in die Kleidung und holten, was notwendig war. Einschließlich der alten MP 40 von Walthers Vater, die der seinem Sohn übergeben hatte, bevor er sich im dämlichen Volkssturm für den ollen Adolf umbringen ließ.
„Pass auf dich auf, Walther Müller“, sagte seine Frau mit Tränen in den Augen zum Abschied. „Du magst dir denken, dass du ohne mich nicht zurechtkommen würdest…“
Er zuckte zusammen, als sie bewies, wie gut sie ihn durchschaute und dass sie sehr wohl wusste, weswegen er sie nicht dabei haben wollte.
„Aber ohne dich…“, sie stockte. „Wen sollte ich denn rumscheuchen und anschreien?“

Er nickte und küsste sie.
„Später wirst du nicht drum rum kommen, mir zu gestehen, dass du mich noch liebst“, sagte er mit schrägem Lächeln.
„Später“, nickte sie. „Später werde ich dir alles gestehen.“

*****

Energisch trat Renate aus dem Haus. Sie hatte die Polizei gerufen und sie hatte bei Müllers angerufen, weil der Walther nicht so weit von der Bauruine im Wald wohnte. Und weil er als Jäger ein Gewehr hatte.
Die Rentnerin hoffte inständig, dass er seine Flinte nicht brauchen würde. Aber was auf dem Zettel stand, machte ihr wenig Hoffnung.
Ein dummer Jungenstreich sah anders aus. Selbst heutzutage. Und er kam nicht so kurz, nachdem sich Peter mit den Pfaffers angelegt hatte, aus heiterem Himmel.

Renate wusste, dass die beiden jüngeren Brüder Maulhelden waren. Aber da gab es noch den älteren. Und wo der steckte, wusste niemand.
Er hatte seine Mutter fast totgeprügelt. Was mochte er mit einem Mädchen anstellen, dass ihm rein gar nichts bedeutete?

Renate wusste, was Gewalt anrichten konnte. Sie wusste es aus erster Hand.
Nicht nur die Opfer veränderten sich, sondern auch die Täter. Sie verloren ihre Menschlichkeit. Wurden zu Tieren ohne Mitleid. Bis sie nicht mehr unterschieden zwischen Schuldigen und Unschuldigen.
Renate war die Letzte, die nicht einräumte, dass für angetanes Unrecht Vergeltung gerechtfertigt war. Aber was hatten sie und ihre Schwestern jemandem an Unrecht getan, das rechtfertigte, was ihnen angetan worden war? Was hatten sie den Russen getan, die über sie hergefallen waren und Ulrike, Wilhelmina und Franziska hernahmen, bis sie tot waren?
Was konnten Kinder denn schon Schlimmes getan haben?

Nicht noch einmal! Das hatte sie sich geschworen.
Und nun hatte sich jemand ihre Enkelin geholt und wollte ihr ein Leid antun.
Nun… Sie hatte Rudolfs Luger in der Tasche und sie war bereit sie einzusetzen. Sie hatte einst einem russischen Soldaten mit einer Schaufel den Schädel eingeschlagen und einen anderen mit der Mistgabel aufgespießt und elendig verrecken lassen.
Sie konnte und würde ihre Kinder schützen. Um jeden Preis!

Nur ob sie nach all den Jahren noch in der Lage war, Ernsts Höllenmaschine zu bändigen, wusste sie nicht so recht. Die schwere BMW stand unter einer Plane abgedeckt im Schuppen. Eigentlich sollte sie tip-top in Schuss sein. Darum kümmerte sich ihr Sohn gelegentlich.
Und eigentlich konnte sie auch ein Motorrad fahren. Ernst hatte es ihr selbst beigebracht und sie hatte sogar ordentlich Spaß daran gehabt. Nur war sie da noch wesentlich jünger gewesen.

Na, es nutzte alles nichts. Wenn sie rechtzeitig kommen wollte, um Schlimmes zu verhindern, konnte sie nicht auf jemanden warten oder zu Fuß gehen. Also stieg sie auf den Bock und startete mit einigen Schwierigkeiten die schwere Maschine.
Und dann ließ sie die Kupplung kommen und klappte bei der ersten Vorwärtsbewegung die Stütze ein, wie sie es gelernt hatte. Sie fuhr!
Nur ob es mit dem Anhalten was werden würde, musste sich noch zeigen…

*****

Nadia war am Rande der Hysterie.
Sie fand es unerträglich, still im Auto sitzen zu müssen, während Kenny viel zu langsam und vorsichtig durch das Dorf kurvte. Das Auto konnte doch bestimmt schneller als hundertzwanzig fahren. Warum schlich er so?
Weil niemandem geholfen war, wenn sie an einer Hauswand plattgedrückt wurden, beantwortete sie sich die Frage selbst. Aber besser wurde es dadurch nicht.

Tanja… Immer wieder Tanja.
Gerade, wenn sie anfing, dem Rotschopf eventuell einmal verzeihen zu können, passierte wieder irgendetwas und Tanja steckte mittendrin.
Nein. Das war unfair. Tanja hatte sicherlich nicht die Geisel spielen wollen. Sie steckte ebenso in Schwierigkeiten, wie Peter vermutlich mittlerweile.
Peter…

Nadia musste mit den Tränen kämpfen, als sie sich vorstellte, dass er allein dem dämlichen Trio von Brüdern gegenüberstand. Drei gegen einen. Und sie hätte ihr ganzes Geld auf ihren Freund gesetzt, wenn sie sich hätte sicher sein können, dass die anderen fair spielten. Aber sie konnte sich leider nur auf das genaue Gegenteil verlassen.
So dämlich diese Scheißhaufen auch sein mochte, so wahrscheinlich war es, dass sie etwas ausgeheckt hatten. Schon allein, weil sie aus erster Hand wussten, wie stark Peter war.
Und offenbar wussten sie auch um seine Schwächen…

Mit Tanja und auch noch Patty als Geisel konnten sie ihn zur Untätigkeit verdammen. Nadia wusste genau, dass Peter niemals seine Lieben gefährden würde. Wenn sie ihm damit drohten, würde er sich womöglich nicht einmal wehren.
Aber wenn er sich nicht wehrte… Wenn er tatenlos blieb, dann…
„Fahr schneller!“, fauchte sie wütend.
„Ich fahr so schnell es geht“, gab Kenny zurück. „Schau du mal ins Handschuhfach.“

Sie brauchte einen Augenblick, um diese Aufforderung zu verarbeiten.
„Wozu?“, schnappte sie verwirrt.
„Elektroschocker, Mutter“, antwortete er.
Oh… Oh!

Rasch beugte sie sich vor und riss das Handschuhfach auf. Es war voller Papiere, Müll und irgendwelchem Kram, aber wenigstens lenkte die Sucherei sie von ihren Sorgen ein wenig ab.
Trotzdem wurde sie schnell ungeduldig und riss schließlich den ganzen Mist aus dem Fach. Bis sie endlich das kleine, schwarze Gerät mit dem Drücker und den beiden Metallspitzen fand.
„Habs!“
„Gut.“

Als sie wieder hochkam, sah sie, dass Kenny das Licht ausgeschaltet hatte und sie gerade die ersten Bäume passierten. Er verlangsamte erheblich.
„Was?“, zischte sie alarmiert.
„Anschleichen“, erwiderte er.
Gut… Das mochte sogar Sinn machen.
Aber… so wären sie zu Fuß ja fast noch schneller!

„Kenny“, wimmerte sie gequält.
„Ich weiß, Nadia. Aber wenn wir helfen wollen, müssen wir vorsichtig sein“, besänftige er sie. „Für Peter, für Patty… und für Tanja.“
Wäre die Situation nicht so angespannt gewesen, hätte sie eindeutig nachgefragt, wieso seine Stimme bei der Erwähnung von Peters Cousine so rau wurde. Aber sie hatte einfach andere Dinge, über die sie sich Gedanken machen musste.
Patty und Peter waren ihr ganz einfach wichtiger als der Rotschopf.

*****

Längst hatte Peter sich die Lippe blutig gebissen.
Er weigerte sich, vor Schmerz zu schreien oder auch nur zu stöhnen, obwohl er genau wusste, dass er die beiden Wichser damit nur noch mehr anspornte. Das hier war kein Spiel mehr, aus dem er mit einem Bluff oder einer Finte herauskommen würde.
Das war bitterer Ernst.

Rene und Andre hatten sich nicht lange damit aufgehalten, ihn zu schlagen. Er war schnell zu Boden gegangen und hatte sich zusammengekrümmt, um die empfindlichen Körperzonen so gut wie möglich zu schützen. Und die beiden Feiglinge hatten daraufhin angefangen, auf ihn einzutreten.
Um Rene machte sich Peter dabei tatsächlich weniger Sorgen. Der Mistkerl war gut darin, Kleinere und Schwächere einzuschüchtern, aber er teilte nicht sonderlich hart aus. Sein Bruder hingegen hatte reichlich Erfahrung darin, Leute zusammenzutreten. Und die nutzte er auch.
Das würde nicht mehr lange gutgehen…

Ein sich näherndes Auto verschaffte ihm eine dringend benötigte Verschnaufpause. Kurz hoffte er darauf, dass womöglich Hilfe nahte. Aber dem war leider nicht so…
„Wer ist das?“, fragte Rene keuchend. „Bullen?“
„Klar, du Nacken“, grunzte Pierre. „Die kündigen sich mit zwei Mal hupen an. Machen die immer so…“
„Sind das deine anderen Kumpel“, fragte Andre.
„So siehts aus. Und ich bin gespannt, was sie mitbringen…“

Peter rührte sich nicht, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er brauchte jeden ungestörten Atemzug, den er bekommen konnte.
Aber dennoch blickte er zu Tanja hinüber, die als Einzige überhaupt nicht auf das Auto achtete. Tatsächlich sah sogar Pierre nicht mehr zu ihm. Nur Tanja starrte ihn an und aus ihren weitaufgerissenen Augen strömten Tränen.
Sie schien ihn stumm anzuflehen, ihr zu verzeihen. Und er nickte unmerklich und zwinkerte ihr zu. Woraufhin sie schluchzte und Pierre auf sich aufmerksam machte. Da es allerdings nicht wirklich etwas zu sehen gab, blickte der auch schnell wieder weg.

Das Auto hielt an und er hörte Autotüren aufgehen.
„Wir haben eine geile, kleine Schlampe mitgebracht, die auf harte Männer steht“, verkündete jemand.
‚Nadia!‘ schoss es Peter durch den Kopf und seine Angst um sie jagte ihm einen Adrenalinstoß durch den Körper.
„P-patze?“, keuchte Rene allerdings völlig fassungslos.
„Ich schnall ab!“, grunzte Andre.

„Ist das wirklich meine kleine Patrizia?“, fragte Pierre fast sanft, aber dabei irgendwie eiskalt. „Meine Güte. Du bist ja zu einer richtig knackigen, kleinen Nutte geworden. Da freue ich mich jetzt schon auf deinen Preis.“
„Was’n für’n Preis?“, maulte Rene. „Patze gehört uns. Die wird nicht verkauft wie die ander’n.“
„Ihr kennt die Schnalle?“, staunte der Neuankömmling.

Peter konnte nicht mehr zuhören. Und er konnte auch nicht mehr warten. Er musste handeln. Das war seine letzte Chance!
Die Wut ließ ihn rot sehen. Und sie machte es schwer, einen sinnvollen Plan zu formulieren. Deswegen versuchte er es erst gar nicht. Er erhob sich einfach auf die Knie und rammte den beiden Arschlöchern, die neben ihm standen, die Arme in die Kniekehlen.
Noch während sie aufschrien und fielen, knallte er weit ausholend seine Faust in Renes Magen und schmetterte ihn damit hart in den Boden.

Instinktiv wandte er sich dann der größeren Bedrohung zu und schwang sich zu Andre hinüber, der, noch leicht benommen vom Fall, gerade versuchte, sich auf die Ellenbogen aufzustützen.
Er registrierte die drohende Gefahr schnell und ließ sich fallen, um die Arme schützend vor sein Gesicht zu bringen. Aber gegen den Ellenbogen, den Peter mit seinem gesamten Körpergewicht dahinter in seine Körpermitte rammte, half ihm das nicht.
Und als er durch den Treffer unwillkürlich nach Luft ringend mit dem Oberkörper hochkam, während seine Arme dorthin zuckten, wo der Schmerz am größten war, traf ihn Peters linke Faust direkt auf die Nase und ließ ihn laut aufschreien.

*****

Der laute Schmerzschrei von Andre ließ alle Anwesenden die Köpfe herumreißen.
Kurz war die Verwirrung über die plötzliche Veränderung der Situation allgegenwärtig.

Patty wusste, dass es keine andere Chance mehr geben würde. Ihren Bruder mit einer Pistole in der Hand zu sehen, kurierte sie von allen kindischen Hoffnungen auf einen guten Ausgang trotz widriger Umstände.
Als sie sah, wie Peter ihre anderen beiden Brüder von den Beinen fegte, zögerte sie nicht. Sie legte all ihre Kraft in einen rückwärtigen Stoß mit dem Ellenbogen in den Bauch des Typen in ihrem Rücken. Und dann sah sie über das Autodach zum Fahrer des Wagens und wollte losrennen, um ihn anzuspringen oder irgendetwas anderes zu tun, damit er sich nicht einmischen konnte.
Dummerweise war ihr Schlag nach hinten nicht hart genug gewesen, um den Mistkerl wirklich lange zu beschäftigen. Noch im Fallen packte er ihren Arm und riss sie mit sich zu Boden.

Dem Gewicht eines erwachsenen Mannes konnte sie natürlich nichts entgegensetzen. Also fiel sie nach hinten.
Überdeutlich sah sie dabei, wie Pierre sich Peter zuwandte und sich der Arm mit der Waffe langsam in dessen Richtung hob. Aber so sehr sie auch etwas unternehmen wollte - sie wurde umgerissen und musste sich gleich darauf selbst mit aller Kraft zur Wehr setzen.
Ihr Gegner hatte sie vielleicht bislang nicht als Bedrohung betrachtet. Aber nachdem sie ihm wehgetan hatte, kannte er keine Skrupel mehr und es war ihm offenbar völlig egal, dass er mit einem Mädchen kämpfte.

Als der Rest der Szene aus ihrem Blick verschwand, explodierte Schmerz auf ihrer Wange. Direkt unter dem Auge. Und nur der Zufall verhinderte, dass ihr die Lichter ausgingen.
So hart hatte selbst Rene sie noch niemals geschlagen. Mit voller Wucht und geballter Faust.
Unwillkürlich schrie sie laut auf.

*****

Die Ereignisse überrollten Pierre. Eben noch war alles unter Kontrolle und plötzlich brachen überall Prügeleien aus. Waren die alle beknackt? Wieso ignorierte man die verdammte Waffe in seiner Hand?
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Daniel zu Boden ging. Aber mit seiner mageren Schwester würde der fertig werden. Sonst würde Pierre ihm persönlich die Eier abreißen. Wichtiger war, was bei Andre und Rene passierte.

Natürlich waren die beiden Waschlappen nicht einmal in der Lage, einen einzelnen Typen richtig zusammenzutreten. Und deswegen lagen sie jetzt auch beide auf dem Boden und winselten, während sich der Bubi aufrichtete und ihn aufs Korn nahm.
Zeit, die Scheiße wieder unter Kontrolle zu bringen. Und da der Wichser sowieso sterben würde, gab es auch keinen Grund mehr zu warten.

Nicht zum ersten Mal richtete er seine Pistole auf einen Menschen. Seitdem er aus dem Knast raus war, hatte er Anschluss in Kreisen gefunden, die mit einem Mann ohne Skrupel etwas anfangen konnten. Bevor er den Bulgaren kennengelernt hatte, war er sogar schon zweimal dafür bezahlt worden, jemanden umzubringen.
In diesem Geschäft gehörte das dazu. Und es kratzte ihn auch nicht. Das Einzige, was ihn interessierte, war der Preis, den der Bulgare für die beiden Mädchen zahlen würde. Und vielleicht noch, ob er diese angeblich so scharfe Blondine eventuell in die Finger bekommen konnte.
Ohne mit der Wimper zu zucken, legte er auf den dämlichen Bübler an, der den Fehler gemacht hatte, sich mit seiner Familie anzulegen.

Der Stoß von der Seite, der ihn fast aus dem Gleichgewicht brachte, kam völlig überraschend. Die verschnürte Schnalle neben ihm hätte kein Problem darstellen dürfen. Sie war bereits gebrochen und völlig eingeschüchtert.
Trotzdem warf sie sich jetzt gerade mit aller Kraft gegen ihn und versuchte, ihn umzustoßen. Und sie legte sich dabei richtig ins Zeug, sodass er sich ernsthaft erst einmal ihr zuwenden musste, bevor er abdrücken konnte.

*****

Tanja dachte nicht nach, als ihr Peiniger seinen Arm hob und die Waffe auf Peter richtete.
Es kam ganz einfach nicht in Betracht, dass jemand ihn erschoss. Also warf sie sich mit aller Kraft gegen den ältesten der Pfaffer-Brüder und versuchte, ihn umzustoßen. Und auch, wenn sie dabei nicht wirklich erfolgreich war, zielte er zumindest für einen Moment nicht mehr auf Peter.
Zeit, in der ihr Cousin sich aufrappeln und herankommen konnte, um dem Wichser die Fresse zu polieren.

Mit den Armen an den Oberkörper gefesselt, konnte sie nur ihren ganzen Körper als Waffe einsetzen. Das musste reichen. Damit musste sie den Mistkerl einfach so lange bedrängen, bis Peter da war.
Es gab keine andere Möglichkeit.
Es musste gelingen!

Aber dann waren da plötzlich starke Arme, die sie von hinten packten und fortzogen. Irgendeiner der anderen Typen, der sie einfach von Boden hob und zurückzog.
Unbehindert konnte Pierre nun wieder anlegen und die gefährliche Waffe auf Peter richten, der sich gerade vorwärts stolpernd näherte.
Kein Schrei gegen ihren Knebel und kein Aufbäumen gegen die grobe Umarmung half.
Sie konnte nur noch… zutreten!

*****

Der peitschende Knall hallte durch den nächtlichen Wald und alle, die ihn hörten, erkannten ihn sofort als das, was er war: ein Schuss!

Walther, der gerade zu Fuß den Waldrand erreicht hatte, hielt kurz inne und fragte sich besorgt, wer da gerade das Ziel gewesen war. Hoffentlich war es nur ein Warnschuss gewesen. Hoffentlich kam er nicht zu spät. So schnell er konnte, rannte er weiter.

Renate, sie soeben die ersten Bäume passierte, bremste scharf ab, als sie das charakteristische Geräusch hörte. Hoffnung und Sorge tobten in ihrer Brust, aber die Sorge überwog. Sie hatte ein sehr, sehr böses Gefühl bei dieser Sache und gerade war es noch einmal wesentlich schlimmer geworden. Es hatte nicht wie ein Jagdgewehr geklungen. Und das war ein schlechtes Zeichen. Schnell gab sie wieder Gas und fuhr weiter.

Kenny fuhr zusammen, als er das Knallen hörte. Es kam direkt von der anderen Seite des Rohbaus, an den er sich mit Nadia von hinten herangepirscht hatte. ‚Zu spät?‘, dachte er. ‚Bitte nicht!‘

„Peter?“, keuchte Nadia und rang nach Luft.
Ihr war fast, als würde ein glühendes Messer ihr in den Bauch gerammt werden.
Alle Vorsicht war vergessen, als sie einfach losrannte. Sie musste zu ihm.
Jetzt!

*****

Als Kenny hinter Nadia herstolperte, hatte sie schon ein paar Meter Vorsprung.
Sie war einfach losgerannt und er konnte es ihr nicht verdenken. Auch wenn er sich noch mehr Sorgen um Tanja machte, die ja immerhin als erste in diese Misere geraten war.
Tanja, Peter und auch Patty. Er wollte keinen von ihnen auf der anderen Seite des Hauses blutend am Boden vorfinden. Und deswegen rannte er selbst ebenfalls los.

Als er um die Hausecke bog, sah er Nadia nur wenige Meter vor sich. Und er sah Patty neben der geöffneten hinteren Tür eines Wagens gegen einen Unbekannten kämpfen, der sie gerade an den Haaren packten und hochriss, während er ausholte, um ihr die Faust sonstwo hin zu rammen.
Nadia ignorierte diesen Kampf völlig und auch Kenny wollte am liebsten daran vorbeilaufen, bis er wusste, wie es um Tanja stand. Aber eine Freundin war in Schwierigkeiten. Und das konnte er nicht ignorieren.

Mit einem lauten Brüllen machte er den Fremden auf sich aufmerksam und brachte ihn tatsächlich dazu, den Kopf zu drehen und den Schlag nicht auszuführen.
Aus vollem Lauf sprang er los und nahm die Körpermitte des Arschlochs aufs Korn. Und die traf er auch mit voller Wucht, wodurch sie alle drei in einem verworrenen Haufen zu Boden gingen.

Ohne Orientierung konnte sich der drahtige junge Mann nur nach seinen Instinkten richten. Aber er hatte den Gegner direkt vor sich und so konnten seine Schläge nicht daneben gehen.
Was unglücklicherweise auf für die Fäuste und Ellenbogen galt, die auf seinen Rücken knallten…

*****

Als Nadia um die Ecke bog, bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen.
Peter lag mitten auf dem freien Platz vor der Bauruine auf dem Boden und rührte sich nicht. Und vor ihm stand ein Typ mit einer Pistole in der Hand, aus deren Lauf sie Rauch zu sehen glaubte.
„Peter!“, schrie sie in vollem Lauf. „Nein!“

Alle anderen Menschen in der Nähe und alles andere auf der Welt wurde bedeutungslos, als sie ihren Geliebten wie tot daliegen sah. Alles, bis auf… seinen Mörder!
Noch immer mit voller Geschwindigkeit nahm sie ihr Ziel aufs Korn, während der Bastard sich in ihre Richtung drehte.
Die Überraschung auf seinem Gesicht bedeutete ihr nichts. Und ebenso wenig die Waffe, die er herumschwenkte, um auf sie zu zielen.

Er war zu langsam. Sie würde ihn erreichen, bevor er auf sie schießen konnte.
Und dann würde sie ihn töten!

*****

Tommy konnte nicht fassen, wie plötzlich alles schiefging.
Eben noch waren sie dabei, einem Knilch eine Abreibung zu verpassen und eben mal nebenbei ein paar Tussis für den Bulgaren aufzugabeln. Danach wollten sie sich für eine Weile dünnemachen, weil die Geschichte sicherlich eine Menge Staub aufwirbeln würde. Aber sie hatten reichlich Freunde auf dem Balkan, die sie für eine lange Zeit besuchen konnten, wenn es sein musste.
Alles hätte einfach und ohne Probleme über die Bühne gehen sollen. Weswegen es ihm auch völlig übertrieben vorgekommen war, Daniel und Wolfi mitzunehmen. Mehr Beteiligte bedeutete immer auch, dass der Gewinn durch mehr geteilt werden musste.

Aber jetzt gerade wünschte er sich, sie hätten doppelt so viele Kumpel mitgebracht, weil einfach dauernd irgendwelche Kids irgendetwas völlig Unerwartetes taten und nichts lief, wie es geplant war.
Erst schafften es die jämmerlichen Brüder von Pierre nicht, einen einzelnen Kerl richtig zu vermackeln, dann wurde Daniel nicht mit einer fliegengewichtigen Schlampe fertig und ging auf die Matte und jetzt kriegte er es nicht hin, eine Tussi richtig festzuhalten.
Ein gefesseltes Mädchen!

Die ganze Sache hätte erledigt sein müssen, als Pierre den Typen erschoss, wegen dem seine Brüder so sauer waren. Aber die dumme Kuh, die er ihm vom Hals zu halten versuchte, trat ihm an die Hand.
Der Knilch war zwar trotzdem zu Boden gegangen, aber es hatte doch eher nach einem Beintreffer ausgesehen als nach einem sauberen Schuss.
Und als wäre das nicht genug, tauchten plötzlich aus dem Nichts irgendwelche Leute auf und mischten sich ein. Was für eine Scheiße!

Im ersten Moment dachte er fast, er würde Gespenster sehen, als eine kleine Blondine angeschossen kam und sich auf Pierre stürzte. Der versuchte zwar, die Pistole rumzureißen, aber er schaffte es nicht. Er konnte nur so eben ihre Hand packen, in der sie einen verfickten Elektroschocker hielt, den sie offenbar auch einsetzen wollte, so wie das Ding knatterte und Funken erzeugte.
Mit voller Wucht krachte sie gegen ihn und warf ihn um. Und dann wälzten sich die beiden auf dem Boden rum und kämpften um die Kontrolle über den Schocker. Obwohl Pierre doch eigentlich keine Probleme mit der Kleinen haben sollte.
Was zum Henker frühstückten die scheiß Kids hier denn, dass die alle so verdammt stark waren? Steroide?

Dann sah er auf dem Boden neben Pierre und der Blondine die Pistole liegen und erkannte die Chance, die Sache zu bereinigen. Selbst wenn Wolfi nicht endlich mal seinen Arsch von seinem Aussichtsposten her bewegte.
Grob stieß er die Rothaarige von sich. Sie war gefesselt und würde hoffentlich keine Probleme mehr machen.
Dann hechtete er vorwärts auf die Pistole zu.

Und fast hätte er sie auch erreicht…

*****

Der Schmerz war die Hölle!
Für einen langen Augenblick war ihm schwarz vor Augen geworden. Und wäre da nicht dieser eine Laut gewesen, hätte er es vielleicht auch einfach aufgegeben.
Aber dann hörte er Nadias Stimme seinen Namen schreien und wusste, dass er nicht aufgeben konnte. Nicht, solange Menschen in Gefahr waren, die er liebte.

Alles war verworren und er wusste nicht, was geschah. Sein Bein brannte wie die Hölle, seine Muskeln protestierten gegen jede Bewegung und sein ganzer Körper fühlte sich an, als wäre er durch den Fleischwolf gedreht worden.
Dann sah er etwas Schwarzes vor sich im Dreck liegen. Direkt neben ringenden Körpern, die er schon kaum noch erkennen konnte.
Etwas sagte ihm, dass es die Pistole sein musste. Und dass er sie an sich bringen sollte.

Als ein Körper in sein Blickfeld kam und sich eine Hand nach der Waffe ausstreckte, wusste er aber auch, dass dieser Typ sie nicht erreichen durfte. Und damit hatte er ein Ziel, an dem er sich festhalten konnte.
Er packte den Körper einfach und zerrte daran, um ihn näher zu sich zu bringen. Und dadurch entfernte sich die Hand von der Pistole. Was gut war. Vermutlich…

Als sich der Fremde ihm zuwandte und anfing, nach ihm zu schlagen, wurde das unwichtig. Er konnte sich nur noch darauf konzentrieren, sich zu wehren und vielleicht selbst einen Schlag auszuteilen.
Mehr war nicht drin…

*****

Andre musste seine Nase nicht anfassen, um zu wissen, dass sie gebrochen war. Also ließ er es bleiben und sparte sich den Schmerz.
Seine tränenden Augen raubten ihm die Sicht und der Schmerz raubte ihm den Atem. Und als er beides halbwegs unter Kontrolle hatte, war die Kacke übelst am Dampfen.

Plötzlich stand niemand mehr. Alle lagen am Boden und kämpften mit irgendwem. Pierre mit der scheiß Blondine, dieser Tommy mit dem Wichser von Bübler und irgendwer hinter dem Wagen mit irgendwem.
Große Scheiße…

Aber da alle beschäftigt waren, interessierte sich irgendwie niemand mehr für die Pistole, die einfach so im Dreck lag. Und das war doch perfekt, um selbst mal einen coolen Auftritt hinzulegen.
Mit einer Knarre konnte er den Mist hier beenden und außerdem würde das Arschloch Pierre ihn dann auch nicht mehr so dumm von der Seite anmachen.
Schnell kämpfte er sich auf die Beine, um diesen perfekten Plan in die Tat umzusetzen. Aber er kam nicht einmal drei Schritte weit…

Von der Seite her kam der letzte von Pierres Kumpels angelaufen. Wulfi oder Wolfi oder sowas.
Und leider hatte der bereits eine Knarre in der Hand und Andres Auftritt fiel damit ins Wasser, weil die Show jetzt natürlich vorüber war.
Drecksscheiße!

*****

Tanja brauchte eine Weile, um wieder zu Atem zu kommen, nachdem sie einfach achtlos zu Boden geworfen worden war. Ohne Arme hatte sie ihren Fall nicht bremsen können und war mit Brust und Kopf aufgeschlagen. Für kurze Zeit drehte sich alles vor ihren Augen.
Als sie sich halbwegs aufgesetzt hatte, sah sie, dass noch längst nicht alles vorbei war. Aber sie sah vor allen anderen Dingen, dass sie nicht völlig versagt hatte!

Auch wenn Peter zu Boden gegangen war, als der Schuss fiel, kämpfte er jetzt mit dem Typen, der sie zuvor festgehalten hatte. Und wer kämpfte, der lebte.
Direkt daneben sah sie Nadia mit Pierre ringen, und auch wenn ihre einstige Freundin deutlich weniger Masse hatte, war der Kampf noch nicht entschieden. Also gab es wirklich Grund zur Hoffnung.
Die starb jedoch fast wieder, als sie einen weiteren ihrer Entführer heraneilen sah. Mit… einer weiteren Pistole in der Hand.

Einen Augenblick lang verließ den Rotschopf alle Kraft. Sie konnte nicht mehr. Und für jeden der Mistkerle, der zu Boden ging, tauchte ein Neuer auf. Das war einfach nicht fair…
Aber dann sah sie, wie der Neuankömmling sich verwirrt umsah und die Waffe auf Peter anlegte, der seitlich zu ihm lag. Und sofort wusste sie wieder, was sie tun musste.

Aus dem Sitzen ins Knien war einfach und aus dem Knien auf die Füße ebenso. Ohne den Blick von dem Fremden zu nehmen, der sich offenbar noch nicht völlig sicher war, ob er schießen sollte, stand sie auf und rannte los.
Der kürzeste Weg führte zwischen den Ringenden hindurch und direkt in die Schusslinie, aber das war ihr egal. Wenn es sie erwischte, war das tausend Mal besser, als wenn Peter starb. Eigentlich wäre es sogar das Beste.

Als sie ein Schlag in die Magengegend traf, verstand sie nicht, woher der so plötzlich gekommen war.
Erst, als sie zum zweiten Mal in dieser Nacht - und ihrem kurzen Leben - das laute Krachen eines Schusses hörte, ging ihr ein Licht auf. Und mit dem Licht kam auch der Schmerz!
Aber er blieb nur, bis sie wieder in den Dreck knallte und das dreifache Echo des Schusses in ihrem Kopf verhallt war. Dann senkte sich gnädige Schwärze herab und nahm ihr Schmerz, Angst und Schuldgefühle.

Sie hatte endlich einmal das Richtige getan…

*****

Der Schuss brachte alle Kämpfe für einen Moment zum Erliegen. Niemand hatte damit gerechnet und alle waren überrascht. Außer Nadia, die nur ein Ziel hatte und alles andere ignorierte.
Als Pierre zusammenzuckte und für einen Sekundenbruchteil abgelenkt war, brachte sie die Metallspitzen des Schockers in Kontakt mit seiner Wange und drückte den Auslöser. Und dann zuckte sie zurück, als sie selbst einen Schlag bekam, wo sie ihn berührte.
Eigentlich hätte sie ihn am liebsten mit so vielen Stromstößen traktiert, dass er nie wieder aufstand, aber ihr Blick fiel zufällig auf Peter, der ganz und gar nicht tot war.

Er sah zur Seite und rang keuchend nach Atem, bevor er sich kriechend und schluchzend in Bewegung setzte. Als sie dorthin blickte, wo er hinsah, verstand sie weswegen.
Tanja lag dort verkrümmt auf dem Boden und kurz vor ihr stand ein weiterer der Wichser, die für all das hier verantwortlich waren. Mit einer Pistole in der Hand.

Vor Mitleid zuckte sie zusammen. Das hatte Tanja nicht verdient!
Vor allem, da sie offenbar versucht hatte, Peter zu schützen, der genau in Schussrichtung lag.
Und der… das nächste Ziel des Arschlochs sein würde!

Bevor sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte und aufspringen konnte, um etwas zu unternehmen, knallte es wieder. Diesmal allerdings irgendwie dumpfer und anders als die beiden Male zuvor. Und ganze drei Mal.
Wie eine verrückt gewordene Marionette zuckte der Typ mit der Pistole zusammen und stolperte rückwärts, während sein Shirt aufplatzte und rote Punkte sichtbar wurden.
Was…?

*****

Renate hatte gezögert, den ganzen Weg bis zu der Bauruine zu fahren. Aber dann sah sie in der Ferne im Scheinwerferlicht eines Autos ein großes Gerangel und wagte es doch.
Kurz darauf war sie froh darüber.

Auf den ersten Blick war niemand mehr auf den Beinen. Alle möglichen Gestalten rangen miteinander und waren unmöglich auseinanderzuhalten. Mit einigen wenigen Ausnahmen…
Tanjas Haare mochten schmutzig sein, aber sie waren unverkennbar. Und so sah Renate ihre Enkelin mit gefesselten Armen und praktisch nackt aufspringen und losrennen, nur um bezeugen zu müssen, wie ein fremder Bursche am Rand des Geschehens seine Pistole abfeuerte und sie kaltblütig erschoss.

Schockiert rang die Rentnerin nach Luft und fühlte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Aber sie sah auch, wie der Mörder seine Waffe weiterhin hochhielt und sich ihren Enkel Peter als nächstes Ziel aussuchte.
Ohne nachzudenken, stellte sie sich so auf, wie Rudolf es ihr gezeigt hatte. Fester Stand, die Waffe in beiden Händen und über Kimme und Korn gezielt. Einatmen, ausatmen, den Atem anhalten und abdrücken. Es passierte alles genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Und da sie das Bocken der Waffe tatsächlich viel besser unter Kontrolle hatte als vor all den Jahrzehnten, konnte sie es drei Mal tun, bevor sie nachkorrigieren musste. Aber drei Schüsse waren offenbar mehr als genug, denn der Mörder kippte bereits nach hinten und ließ die Waffe fallen.

Erst dann gestattete sie sich ein Blinzeln, um den Blick von Tränen zu klären. Und beinahe hätte sie auch das bitter bereut.
Kaum sah sie wieder etwas klarer, erblickte sie nämlich einen weiteren Fremden, der mit einer Waffe auf Peter anlegte. Als hätten es alle diese verfluchten Bastarde nur auf ihre Enkel abgesehen.

Er saß auf dem Boden und die Waffe musste in seiner Nähe gelegen haben. Nun hob er sie und zielte auf den Rücken ihres Enkels, der über den Boden auf Tanja zu kroch und eine Blutspur hinter sich herzog.
Entschlossen legte sie auf das neue Ziel an. Und konnte gerade noch so den Finger vom Abzug nehmen, als die kleine Nadia ihr in die Schusslinie flog.

Mit einem wütenden Aufschrei warf sich die Blondine gegen den Burschen und dann zuckte er plötzlich, als habe er einen Anfall. Wieder und wieder und wieder.

*****

Dass Walther zu spät kam, wusste er schon, als er keuchend die letzten hundert Meter durch den Wald hetzte. Fünf Schüsse verhießen nichts Gutes. Dabei musste einfach jemand zu Schaden gekommen sein.
Doch als er aus dem Gebüsch trat, sah er schon auf den ersten Blick Renate mit einer alten Luger im Anschlag am gegenüberliegenden Rand des Geschehens stehen. Und das gab ihm Hoffnung.
Bis er das halbnackte Mädchen in einer größer werdenden Blutlache daliegen sah…

Seine Wut bezähmend sah er sich weiter um und entdeckte mindestens zwei der Pfaffer-Brüder auf den Beinen und bereit, sich aus dem Staub zu machen. Und noch immer gab es Gerangel bei einem herumstehenden Wagen.
All das endete abrupt, als er einen kurzen Feuerstoß in die Luft abgab. Niemand bewegte sich mehr nach diesem eindeutigen Beweis, dass überlegene Feuerkraft vor Ort war und es mit jeder Pistole aufnehmen konnte.
Niemand, bis auf den jungen Peter. Und kurz darauf auch die kesse Blondine, die irgendwie zu ihm gehörte.

Der Junge kroch mit einer ordentlich blutenden Beinwunde zu seiner Cousine und schluchzte. Und das andere Mädchen rannte nach kurzem Zögern zu ihm hin und half ihm, sich bei dem bewegungslosen Rotschopf aufzurichten.
Wenn es noch etwas zu retten geben sollte, musste es schnell gehen. Da sagte dem erfahrenen Jäger die Blutlache. Aber solange da noch irgendwelche Fremden eventuell bewaffnet waren, hatte das einfach Priorität.
Also trieb er sie zusammen und überließ es Renate, nach ihrer Enkelin zu sehen.

Zwei der Pfaffers waren weitgehend wohlauf, wenn auch ramponiert. Ein weiterer war bewusstlos. Und hinzu kamen ein ramponierter, ein bewusstloser und ein toter Fremder.
Den Beamten in den aus der Ferne anrückenden Streifenwagen, deren Blaulichter man bereits sehen konnte, die Lage zu erklären, würde nicht sehr erfreulich werden.

„Hast du Verbandsmaterial bei dir, Walther?“, fragte Renate besorgt. „Tanja ist…“
„Leider nicht, Renate“, gab er zurück. „Aber Hilfe ist in wenigen Minuten hier.“
Daraufhin wollte die Rentnerin sich abwenden, aber er hielt sie auf.
„Du gibst mir besser die Luger.“
„Warum?“, fragte sie und drehte sich weg, wie um die Waffe vor seinem Zugriff zu schützen.
„Weil ich so eine Pistole besitzen darf und all das leichter zu erklären sein wird, wenn ich sie bei mir trage.“
„Oh…“, machte sie erstaunt. „Aber…“

Gerade wollte er ihr erklären, dass er ebenso wenig gezögert hätte, die Waffe einzusetzen. Und dass er es mit ihrer Hilfe auch der Polizei erklärt bekommen würde. Aber sie wurden unterbrochen.
Hustend und keuchend richtete sich der Hauptverantwortliche für das ganze Schlamassel auf und schüttelte den Kopf, um seine Benommenheit abzuschütteln. Und dann wollte er aufspringen, weil er sich der Lage wohl noch nicht recht bewusst war.

„Wohin denn, Bürschlein?“, grollte Walther und gab ihm einen Stoß mit dem Lauf der Maschinenpistole.
„Was willst du, Opi?“, schnauzte der Mistkerl, bevor er die Waffe identifizierte und sich wieder auf den Hintern fallen ließ.
„Diesmal wirst du nicht so schnell wieder aus dem Knast kommen“, versprach der Jäger ihm finster.
„Glaub bloß nicht, dass ihr deswegen sicher seid“, knurrte Pierre Pfaffer. „Dafür werdet ihr alle bezahlen!“

Walther sah in seinen Augen, dass er es ernst meinte. Selbst die Augen eines tollwütigen Fuchses enthielten noch mehr Menschlichkeit als dieser kalte Blick. Hätte es einen Zweifel gegeben, dass der Bursche seine eigene Mutter fast erschlagen hätte, wäre er in diesem Moment verflogen.
Kurz war Walther mehr als nur ein wenig versucht, dem Ganzen hier ein Ende zu bereiten. Rasch, bevor die Polizei eintraf.
Das Knallen eines Schusses ließ ihn gehörig zusammenfahren und schreckte alle auf. Und es enthob ihn der Entscheidung.
„Nein“, sagte Renate kühl. „Du bezahlst.“

Danach musste er ihr die Waffe fast mit Gewalt abnehmen, weil sie die Verantwortung für ihre Tat nicht abgeben wollte. Es gelang ihm gerade noch früh genug, das restliche Magazin in die Luft zu entleeren. So konnte er wenigstens behaupten, es wären Warnschüsse abgefeuert worden und niemand konnte wissen, wann genau Pierre Pfaffer sich die Kugel eingefangen hatte.
Dann jaulten jedoch schon die Sirenen auf und das Blaulicht flackerte durch den Wald.

‚Gott sei Dank ist alles unter Kontrolle‘, dachte er bei sich. ‚Wären die Idioten vorher mit Blaulicht angerückt, hätte es ein viel größeres Blutbad gegeben…‘